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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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voller That kommen, fehlt dieser zuweilen die höchste Berechtigung. Die
tragische Entwickelung in Miß Sura Sanchson beruht darauf, daß Melford
die Vetise begeht, seiner frühern Geliebten ein Rendezvous mit Miß Sara
zu vermitteln, in Emilia Galotti wird die Jungfrau vom Vater aus Vorsicht
erstochen.

Denn die Feinheit und der Adel, mit welchen die Personen bei den Dich¬
tern des vorigen Jahrhunderts ihre Seelenstimmungen ausdrücken, ist nicht
begleitet von einer entsprechenden Virtuosität im Handeln, nur zu häusig em¬
pfindet man eine Zeit, in welcher der Charakter auch der Besten nicht fest
gezogen und zu Metall gehärtet war durch eine starke öffentliche Meinung,
durch den sicheren Inhalt, welchen das politische Leben im Staate dem Manne
gibt. Willkür in den sittlichen Gesichtspunkten und nervöse Unsicherheit stören
auch genialer Kraft die höchsten Kunstwirkungen. Das ist den Dramen Goe¬
thes oft vorgeworfen worden, über ihn und Schiller sind ganze Bibliotheken
geschrieben, wir beschränken uns hier, den Fortschritt anzudeuten, welcher durch
ihn und Schiller in den dramatischen Wirkungen eingeführt wurde. Goethe
ist in dem charakterisirenden Detail seiner Personen nicht reichliche als Les¬
sing, -- Weisungen, Claoigo, Egmont sind sogar dramatisch dürftiger als Mel¬
ford, Prinz. Tellheim -- seine Figuren haben nichts von dem heftig pulsiren-
den Leben, dem Unruhigen, ja Fieberhaften, weiches in den Bewegungen der
Charaktere Lessings zittert, nichts Gewaltsames, nichts Gekünsteltes beunru¬
higt, die unverwüstliche Grazie seines Genies auch adelt noch das Verfehlte.
Aber erst Goethe, und Schiller haben den Deutschen 'das historische Drama
aufgeschlossen, den höhern Styl in Behandlung der Charaktere, welcher für
große tragische Wirkungen unentbehrlich ist, wenn auch Goethe diese Wir¬
kung nicht vorzugsweise durch Charaktere, noch durch die Handlung erreichte,
sondern durch die unübertreffliche Schönheit und Erhabenheit, mit welcher er
das innere Leben seiner Helden in Worten ausklingen laßt. Da besonders,
wo aus seinen dramatischen Charakteren die herzliche Innigkeit lyrischer Em¬
pfindung durchtönen durfte, zeigt sich gerade in kleinen Zügen ein Zauber der
Poesie, den kein Deutscher sonst auch nur annähernd erreicht hat. So wirkt
die Rolle des Gretchen. Es ist nicht zufällig, daß solche höchste Schönheit in
Goethes Fraucncharakteren wirksam wird; die Männer treiben zum großen
Theil nicht vorwärts, sie werden getrieben, und wenn sie ein Interesse bean¬
spruchen, das sie sich auf der Bühne nicht verdienen, so erscheinen sie fast
wie werthe Freunde des Dichters selbst, deren gute Eigenschaften nur ihm
bekannt sind, während sie in der Gesellschaft, zu welcher er sie geladen hat,
uicht ihre starke Seite hervorkehren. Auch was den Faust zu unserem größten
Dichterwerk macht, ist nicht die Fülle des dramatischen Lebens, am wenig¬
en in Faust selbst. Wenn aber die treibende Kraft seiner Helden nicht


Gronzbotcn II. 1861, l9

voller That kommen, fehlt dieser zuweilen die höchste Berechtigung. Die
tragische Entwickelung in Miß Sura Sanchson beruht darauf, daß Melford
die Vetise begeht, seiner frühern Geliebten ein Rendezvous mit Miß Sara
zu vermitteln, in Emilia Galotti wird die Jungfrau vom Vater aus Vorsicht
erstochen.

Denn die Feinheit und der Adel, mit welchen die Personen bei den Dich¬
tern des vorigen Jahrhunderts ihre Seelenstimmungen ausdrücken, ist nicht
begleitet von einer entsprechenden Virtuosität im Handeln, nur zu häusig em¬
pfindet man eine Zeit, in welcher der Charakter auch der Besten nicht fest
gezogen und zu Metall gehärtet war durch eine starke öffentliche Meinung,
durch den sicheren Inhalt, welchen das politische Leben im Staate dem Manne
gibt. Willkür in den sittlichen Gesichtspunkten und nervöse Unsicherheit stören
auch genialer Kraft die höchsten Kunstwirkungen. Das ist den Dramen Goe¬
thes oft vorgeworfen worden, über ihn und Schiller sind ganze Bibliotheken
geschrieben, wir beschränken uns hier, den Fortschritt anzudeuten, welcher durch
ihn und Schiller in den dramatischen Wirkungen eingeführt wurde. Goethe
ist in dem charakterisirenden Detail seiner Personen nicht reichliche als Les¬
sing, — Weisungen, Claoigo, Egmont sind sogar dramatisch dürftiger als Mel¬
ford, Prinz. Tellheim — seine Figuren haben nichts von dem heftig pulsiren-
den Leben, dem Unruhigen, ja Fieberhaften, weiches in den Bewegungen der
Charaktere Lessings zittert, nichts Gewaltsames, nichts Gekünsteltes beunru¬
higt, die unverwüstliche Grazie seines Genies auch adelt noch das Verfehlte.
Aber erst Goethe, und Schiller haben den Deutschen 'das historische Drama
aufgeschlossen, den höhern Styl in Behandlung der Charaktere, welcher für
große tragische Wirkungen unentbehrlich ist, wenn auch Goethe diese Wir¬
kung nicht vorzugsweise durch Charaktere, noch durch die Handlung erreichte,
sondern durch die unübertreffliche Schönheit und Erhabenheit, mit welcher er
das innere Leben seiner Helden in Worten ausklingen laßt. Da besonders,
wo aus seinen dramatischen Charakteren die herzliche Innigkeit lyrischer Em¬
pfindung durchtönen durfte, zeigt sich gerade in kleinen Zügen ein Zauber der
Poesie, den kein Deutscher sonst auch nur annähernd erreicht hat. So wirkt
die Rolle des Gretchen. Es ist nicht zufällig, daß solche höchste Schönheit in
Goethes Fraucncharakteren wirksam wird; die Männer treiben zum großen
Theil nicht vorwärts, sie werden getrieben, und wenn sie ein Interesse bean¬
spruchen, das sie sich auf der Bühne nicht verdienen, so erscheinen sie fast
wie werthe Freunde des Dichters selbst, deren gute Eigenschaften nur ihm
bekannt sind, während sie in der Gesellschaft, zu welcher er sie geladen hat,
uicht ihre starke Seite hervorkehren. Auch was den Faust zu unserem größten
Dichterwerk macht, ist nicht die Fülle des dramatischen Lebens, am wenig¬
en in Faust selbst. Wenn aber die treibende Kraft seiner Helden nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/155>, abgerufen am 26.06.2024.