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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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heit als Wahrheit überraschen, ist bei ihm in dem beschränkten Kreise seiner
tragischen Figuren größer, als bei Goethe, unmittelbarer als bei Schiller.
Die Zahl seiner dramatischen Grundformen ist nicht groß; um das zärtliche,
edle, entschlossene Mädchen Sara, Emilia, Minna, Reesa und ihren schwan¬
kenden Liebhaber Melsord, Prinz, Tellheim, Templer gruppiren sich die dienen¬
den Vertrauten, der würdige Vater, die Buhlerin, der Intrigant, alle nach
den Fächern der damaligen Schauspielertruppen geschrieben. Und doch gerade in
diesem Kreise ist die Virtuosität in den Variationen bewunderungswürdig, jede
Nuance und Umformung des ursprünglichen Bildes zeigt neue Schönheiten,
einen höhern Reiz. Er ist ein Meister in der Darstellung solcher Leidenschaften,
wie sie sich in einem bürgerlichen Leben äußerten, wo das heiße Ringen nach
Schönheit und Adel der Seele so wunderlich neben rohem Egoismus stand.
Und wie schön ist Alles auch für den Schauspieler empfunden, keiner hat ihm
so aus der Seele gearbeitet, ja Einzelnes, was bei der Lectüre zu unruhig
und zu theatralisch aufgeregt scheint, tritt erst durch die Darstellung in ein gutes
Verhältniß. Seine feine Dialektik der Leidenschaft macht nur in einzelnen
Momenten nicht den Eindruck der Wahrheit, wo er sie zu sein zuspitzt und
einem Behagen an haarspaltcnder Kontroverse nachgibt, an wenigen Stellen
breitet sich auch bei ihm die Reflexion da, wo sie nicht hingehört, und zu¬
weilen ist mitten in der tief poetischen Erfindung ein künstlicher Zug. welcher
als zu raffinirt hereingetragen erkältet, statt den Eindruck zu verstärken. Lehr¬
reich ist dafür, außer Mehreren! im Nathan, in Sara Sampson Act III, Scene 3,
die Stelle, in welcher Sara leidenschaftlich darüber disputirt, ob sie den Brief ihres
Vaters annehmen soll. Der Zug ist höchstens als kurzes Detail der Cha¬
rakteristik zu benutzen (auch dafür discret zu behandeln), in der breiten Aus¬
führung wird er unleidlich. Lessings Stücke werden immer die hohe Schule
des deutschen Darstellers sein und die Pietät der Künstler wird sie auch
dann noch auf unserm Theater bewahren, wenn einst eine männlichere
Bildung das Publicum empfindlicher machen wird gegen die Schwäche der
Umkehr und Katastrophe in Minna von Barnhelm und Emilia Galotti.
Denn darin irrte noch der große Mann, daß heftige Leidenschaft hinreiche, den
poetischen Charakter zum dramatischen zu machen, während es vielmehr
auf das Verhältniß ankommt, in welchem die Leidenschaft zur Willenskraft steht-
Die Leidenschaftlichkeit schafft nur Leiden und erregt im Zuschauer Mitleid,
tragische Conflicte, die Schönheit des Pathos liegen in der Größe und Energie, mit
welcher Urtheil und Wille durch die Leidenschaft beherrscht sich geltend machen-
Nicht die gewaltige Empfindung als solche, sondern nur sofern sie zu
waldigen Thun leitet, ist für alle Zeiten dramatisch. Noch schwanken seine
Hauptpersonen -- und dies ist nicht seine Signatur,, sondern die der Ze^
-- durch stürmische Bewegung hin und Hergetrieben, und wo sie zu verbarg"^


heit als Wahrheit überraschen, ist bei ihm in dem beschränkten Kreise seiner
tragischen Figuren größer, als bei Goethe, unmittelbarer als bei Schiller.
Die Zahl seiner dramatischen Grundformen ist nicht groß; um das zärtliche,
edle, entschlossene Mädchen Sara, Emilia, Minna, Reesa und ihren schwan¬
kenden Liebhaber Melsord, Prinz, Tellheim, Templer gruppiren sich die dienen¬
den Vertrauten, der würdige Vater, die Buhlerin, der Intrigant, alle nach
den Fächern der damaligen Schauspielertruppen geschrieben. Und doch gerade in
diesem Kreise ist die Virtuosität in den Variationen bewunderungswürdig, jede
Nuance und Umformung des ursprünglichen Bildes zeigt neue Schönheiten,
einen höhern Reiz. Er ist ein Meister in der Darstellung solcher Leidenschaften,
wie sie sich in einem bürgerlichen Leben äußerten, wo das heiße Ringen nach
Schönheit und Adel der Seele so wunderlich neben rohem Egoismus stand.
Und wie schön ist Alles auch für den Schauspieler empfunden, keiner hat ihm
so aus der Seele gearbeitet, ja Einzelnes, was bei der Lectüre zu unruhig
und zu theatralisch aufgeregt scheint, tritt erst durch die Darstellung in ein gutes
Verhältniß. Seine feine Dialektik der Leidenschaft macht nur in einzelnen
Momenten nicht den Eindruck der Wahrheit, wo er sie zu sein zuspitzt und
einem Behagen an haarspaltcnder Kontroverse nachgibt, an wenigen Stellen
breitet sich auch bei ihm die Reflexion da, wo sie nicht hingehört, und zu¬
weilen ist mitten in der tief poetischen Erfindung ein künstlicher Zug. welcher
als zu raffinirt hereingetragen erkältet, statt den Eindruck zu verstärken. Lehr¬
reich ist dafür, außer Mehreren! im Nathan, in Sara Sampson Act III, Scene 3,
die Stelle, in welcher Sara leidenschaftlich darüber disputirt, ob sie den Brief ihres
Vaters annehmen soll. Der Zug ist höchstens als kurzes Detail der Cha¬
rakteristik zu benutzen (auch dafür discret zu behandeln), in der breiten Aus¬
führung wird er unleidlich. Lessings Stücke werden immer die hohe Schule
des deutschen Darstellers sein und die Pietät der Künstler wird sie auch
dann noch auf unserm Theater bewahren, wenn einst eine männlichere
Bildung das Publicum empfindlicher machen wird gegen die Schwäche der
Umkehr und Katastrophe in Minna von Barnhelm und Emilia Galotti.
Denn darin irrte noch der große Mann, daß heftige Leidenschaft hinreiche, den
poetischen Charakter zum dramatischen zu machen, während es vielmehr
auf das Verhältniß ankommt, in welchem die Leidenschaft zur Willenskraft steht-
Die Leidenschaftlichkeit schafft nur Leiden und erregt im Zuschauer Mitleid,
tragische Conflicte, die Schönheit des Pathos liegen in der Größe und Energie, mit
welcher Urtheil und Wille durch die Leidenschaft beherrscht sich geltend machen-
Nicht die gewaltige Empfindung als solche, sondern nur sofern sie zu
waldigen Thun leitet, ist für alle Zeiten dramatisch. Noch schwanken seine
Hauptpersonen — und dies ist nicht seine Signatur,, sondern die der Ze^
— durch stürmische Bewegung hin und Hergetrieben, und wo sie zu verbarg»^


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/154>, abgerufen am 28.09.2024.