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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Lustspiel und Oper zur höchsten Kunstschönheit heranreifte, wäre bei alleiniger
Beschäftigung mit Tragödie und Oratorium in Gefahr gekommen, einem ein¬
seitigen Naturalismus zu verfallen.

Händel war also weit entfernt von einem Irrwege, als er Jahre lang
die Bahn der italienischen Oper beschult. Diese Darstellung, welche Chrysander
von der Händelschen Oper gibt, ist völlig neu und zutreffend, und wird ihre
allgemeine Bestätigung finden, wenn die Werke selbst erst zugänglicher geworden
sind. Jedes einzelne Musikdrama unterzieht er einer sehr genaueingehenden Unter¬
suchung; er hält sich dabei streng an die Sache, und seine Kritik der einzel¬
nen Opern ist eine treffliche Anweisung, wie man über Musik sprechen und
urtheilen soll. Bei der großen Masse Materialien, welche der Verfasser nicht
nur gründlich kennt, sondern durchaus verarbeitet hat, ist die einfache Ueber-
sichtlichkeit der Darstellung meisterhaft. Die Zustünde bei der Akademie muß
man aus dem Buche selbst kennen lernen, ein Auszug würde nur zu Ab-
schwächung der kräftigen Conturen führen, in denen jenes Leben bald in hei¬
ter prächtigem Farbenspiel strahlt, bald zu tiefschmutzigen Tinten sich nieder¬
dämpft. Die Mitglieder der Akademie waren für den Zweck vortrefflich ge¬
wählt, aber leider vor Neid und Eifersucht im steten Kampfe. Das Publicum
versetzte die beiden ersten Sängerinnen (Cuzzoni und Faustina) durch seine,
die Grenzen des Anstands weit hinter sich zurücklassenden Antheilsbezengungen
so sehr, daß sie mit Ohrfeigen bei offener Scene sich aufwarteten (Händel
feuerte die Kämpfenden mit der Kesselpauke an, wie eine dramatisirte Farce
von Colley Cibber sagt). Dem Glanz der Akademie war somit zu einem schnellen
Ende verholfen; Gay's Bettleroper (S. 190) that das Ihrige dazu. Eine neue
Opernnkadcmie bildete sich zwar, erreichte aber schon nach vier Jahrcsläufcn
ihr Ende, und die ersten öffentlichen Oratorien Händels (Acis und Galaiea,
Esther, Debornh, Athalia) wurden in London und Oxford 1731--34 aufge-
führt; er kehrte jedoch nochmals zur Oper zurück, und schrieb die letzte (Dci-
dcnnia) 1740, inzwischen aber mehrere Antheus, außer den früheren vier
Krönungsanthems 1727. den wuuderedlen Trauergesang auf die Königin Caro-
line 1737, und 1736 das Alexanderfest nach Drydens Ode "Timotdeos und
Cäcilie,", ein Werk, welches den Gehalt und die unterscheidende Eigenthüm¬
lichkeit seiner Kunst noch deutlicher aussprach, als seine italienischen Singspiele.
Die Verherrlichung der. Tonkunst selbst bildet, wie bekannt, den Gegenstand;
er ergriff ihn inmitten der wirrsten Operntämpfc zu einer Zeit, da er allseitig
vorbereitet war, "der Tonkunst denjenigen Grad der Vollendung zu verleihen,
ohne welchen die andern Künste ihr nie die völlige Ebenbürtigkeit zuerkennen
konnten" und mehrere der klügsten Männer noch behaupteten, daß die Ton¬
kunst überhaupt des geistigen Vollgehnltes entbehrte. Der Tag der heiligen
Cäcilia, als Schutzpatronin der Musik, wurde auch von englischen Tonkünstlcw


Lustspiel und Oper zur höchsten Kunstschönheit heranreifte, wäre bei alleiniger
Beschäftigung mit Tragödie und Oratorium in Gefahr gekommen, einem ein¬
seitigen Naturalismus zu verfallen.

Händel war also weit entfernt von einem Irrwege, als er Jahre lang
die Bahn der italienischen Oper beschult. Diese Darstellung, welche Chrysander
von der Händelschen Oper gibt, ist völlig neu und zutreffend, und wird ihre
allgemeine Bestätigung finden, wenn die Werke selbst erst zugänglicher geworden
sind. Jedes einzelne Musikdrama unterzieht er einer sehr genaueingehenden Unter¬
suchung; er hält sich dabei streng an die Sache, und seine Kritik der einzel¬
nen Opern ist eine treffliche Anweisung, wie man über Musik sprechen und
urtheilen soll. Bei der großen Masse Materialien, welche der Verfasser nicht
nur gründlich kennt, sondern durchaus verarbeitet hat, ist die einfache Ueber-
sichtlichkeit der Darstellung meisterhaft. Die Zustünde bei der Akademie muß
man aus dem Buche selbst kennen lernen, ein Auszug würde nur zu Ab-
schwächung der kräftigen Conturen führen, in denen jenes Leben bald in hei¬
ter prächtigem Farbenspiel strahlt, bald zu tiefschmutzigen Tinten sich nieder¬
dämpft. Die Mitglieder der Akademie waren für den Zweck vortrefflich ge¬
wählt, aber leider vor Neid und Eifersucht im steten Kampfe. Das Publicum
versetzte die beiden ersten Sängerinnen (Cuzzoni und Faustina) durch seine,
die Grenzen des Anstands weit hinter sich zurücklassenden Antheilsbezengungen
so sehr, daß sie mit Ohrfeigen bei offener Scene sich aufwarteten (Händel
feuerte die Kämpfenden mit der Kesselpauke an, wie eine dramatisirte Farce
von Colley Cibber sagt). Dem Glanz der Akademie war somit zu einem schnellen
Ende verholfen; Gay's Bettleroper (S. 190) that das Ihrige dazu. Eine neue
Opernnkadcmie bildete sich zwar, erreichte aber schon nach vier Jahrcsläufcn
ihr Ende, und die ersten öffentlichen Oratorien Händels (Acis und Galaiea,
Esther, Debornh, Athalia) wurden in London und Oxford 1731—34 aufge-
führt; er kehrte jedoch nochmals zur Oper zurück, und schrieb die letzte (Dci-
dcnnia) 1740, inzwischen aber mehrere Antheus, außer den früheren vier
Krönungsanthems 1727. den wuuderedlen Trauergesang auf die Königin Caro-
line 1737, und 1736 das Alexanderfest nach Drydens Ode „Timotdeos und
Cäcilie,", ein Werk, welches den Gehalt und die unterscheidende Eigenthüm¬
lichkeit seiner Kunst noch deutlicher aussprach, als seine italienischen Singspiele.
Die Verherrlichung der. Tonkunst selbst bildet, wie bekannt, den Gegenstand;
er ergriff ihn inmitten der wirrsten Operntämpfc zu einer Zeit, da er allseitig
vorbereitet war, „der Tonkunst denjenigen Grad der Vollendung zu verleihen,
ohne welchen die andern Künste ihr nie die völlige Ebenbürtigkeit zuerkennen
konnten" und mehrere der klügsten Männer noch behaupteten, daß die Ton¬
kunst überhaupt des geistigen Vollgehnltes entbehrte. Der Tag der heiligen
Cäcilia, als Schutzpatronin der Musik, wurde auch von englischen Tonkünstlcw


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[0512] Lustspiel und Oper zur höchsten Kunstschönheit heranreifte, wäre bei alleiniger Beschäftigung mit Tragödie und Oratorium in Gefahr gekommen, einem ein¬ seitigen Naturalismus zu verfallen. Händel war also weit entfernt von einem Irrwege, als er Jahre lang die Bahn der italienischen Oper beschult. Diese Darstellung, welche Chrysander von der Händelschen Oper gibt, ist völlig neu und zutreffend, und wird ihre allgemeine Bestätigung finden, wenn die Werke selbst erst zugänglicher geworden sind. Jedes einzelne Musikdrama unterzieht er einer sehr genaueingehenden Unter¬ suchung; er hält sich dabei streng an die Sache, und seine Kritik der einzel¬ nen Opern ist eine treffliche Anweisung, wie man über Musik sprechen und urtheilen soll. Bei der großen Masse Materialien, welche der Verfasser nicht nur gründlich kennt, sondern durchaus verarbeitet hat, ist die einfache Ueber- sichtlichkeit der Darstellung meisterhaft. Die Zustünde bei der Akademie muß man aus dem Buche selbst kennen lernen, ein Auszug würde nur zu Ab- schwächung der kräftigen Conturen führen, in denen jenes Leben bald in hei¬ ter prächtigem Farbenspiel strahlt, bald zu tiefschmutzigen Tinten sich nieder¬ dämpft. Die Mitglieder der Akademie waren für den Zweck vortrefflich ge¬ wählt, aber leider vor Neid und Eifersucht im steten Kampfe. Das Publicum versetzte die beiden ersten Sängerinnen (Cuzzoni und Faustina) durch seine, die Grenzen des Anstands weit hinter sich zurücklassenden Antheilsbezengungen so sehr, daß sie mit Ohrfeigen bei offener Scene sich aufwarteten (Händel feuerte die Kämpfenden mit der Kesselpauke an, wie eine dramatisirte Farce von Colley Cibber sagt). Dem Glanz der Akademie war somit zu einem schnellen Ende verholfen; Gay's Bettleroper (S. 190) that das Ihrige dazu. Eine neue Opernnkadcmie bildete sich zwar, erreichte aber schon nach vier Jahrcsläufcn ihr Ende, und die ersten öffentlichen Oratorien Händels (Acis und Galaiea, Esther, Debornh, Athalia) wurden in London und Oxford 1731—34 aufge- führt; er kehrte jedoch nochmals zur Oper zurück, und schrieb die letzte (Dci- dcnnia) 1740, inzwischen aber mehrere Antheus, außer den früheren vier Krönungsanthems 1727. den wuuderedlen Trauergesang auf die Königin Caro- line 1737, und 1736 das Alexanderfest nach Drydens Ode „Timotdeos und Cäcilie,", ein Werk, welches den Gehalt und die unterscheidende Eigenthüm¬ lichkeit seiner Kunst noch deutlicher aussprach, als seine italienischen Singspiele. Die Verherrlichung der. Tonkunst selbst bildet, wie bekannt, den Gegenstand; er ergriff ihn inmitten der wirrsten Operntämpfc zu einer Zeit, da er allseitig vorbereitet war, „der Tonkunst denjenigen Grad der Vollendung zu verleihen, ohne welchen die andern Künste ihr nie die völlige Ebenbürtigkeit zuerkennen konnten" und mehrere der klügsten Männer noch behaupteten, daß die Ton¬ kunst überhaupt des geistigen Vollgehnltes entbehrte. Der Tag der heiligen Cäcilia, als Schutzpatronin der Musik, wurde auch von englischen Tonkünstlcw

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/512>, abgerufen am 15.01.2025.