Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.der französischen Musiktragödie als eine dritte Macht, welche die Eigenthüm¬ der französischen Musiktragödie als eine dritte Macht, welche die Eigenthüm¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0510" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111404"/> <p xml:id="ID_1705" prev="#ID_1704"> der französischen Musiktragödie als eine dritte Macht, welche die Eigenthüm¬<lb/> lichkeiten jener ungccinigt neben sich fortbestehen ließ. Auf diesem Grunde<lb/> bezeichnet sie den Uebergang aus einer dramatisch noch unvollkommenen Oper zu<lb/> einer in sich vollkommenen dramatischen Concertmusik (Seite 24). Es war ein<lb/> Schritt mehr seitwärts als vorwärts, jedenfalls aber ein unumgänglich nothwendi¬<lb/> ger, und führte eine wesentliche Läuterung und innere Durchbildung der Form mit<lb/> sich. Die höchste Ausbildung der Oper ist deshalb Händel keineswegs zuzu¬<lb/> schreiben, sondern erst ein Verdienst Glück's und Mozart's. Mit seinen Vor¬<lb/> gängern und älteren Zeitgenossen verglichen erscheint Händel bei entschiedener<lb/> künstlerischer Ueberlegenheit nie originalitätssüchtig, sondern beschied sich an<lb/> die vorhandenen Formen anzuknüpfen, um sie'je nach dem Bedürfnisse der Idee<lb/> des Schönen entsprechender zu gestalten. Mehr die innere Durchbildung zum<lb/> Charakteristischen, zum Schönen und geistig Freien, als die äußere Vermehrung<lb/> des Tonmateriats kennzeichnet sein Schaffen. Scarlatti wurde von ihm im<lb/> Pathetischen, im vollen Ausdruck tiefer Gemüthsbewegung, im rein Leiden¬<lb/> schaftlichen und Großen, sowie in der freieren und reicheren Gestaltung des<lb/> instrumentalen Satzes vervollkommnet. Dabei muß man Händel den Preis,<lb/> seinem großen Vorgänger (Scarlatti) aber vielfach die Originalität zusprechen.<lb/> Die Handlung der italienischen Oper flößte an sich nur geringe Theilnahme<lb/> ein, die einzelnen Charaktere und ihre individuellen Unterschiede erschienen ver¬<lb/> wischt durch die zu musikalischen Zwecken unternommene Verallgemeinerung.'<lb/> Daher wurden solche Opern einander so ähnlich, daß die Handlung in Gefahr<lb/> gerieth vor dem, was Sopran, Alt, Tenor und Baß bedeuten, völlig zu ver¬<lb/> schwinden. Weil aber diese Verallgemeinerung zum Theil aus einem richtigen<lb/> musikalischen Triebe entsprang, aus dem Bestreben nämlich, die verschiedenen,<lb/> das Leben bewegenden Charaktere auf gewisse Grundtypen zusammenzuziehe»,<lb/> damit es dem kunstvollen Tonausdruck möglich würde, ein treues und rechtes<lb/> Bild des Lebens mit seinen eigenen Mitteln zu zeichnen: so stand jedem rich¬<lb/> tig empfindenden Tongeiste auch in einer nur oberflächlich angelegte» Hand¬<lb/> lung noch immer der Weg offen zu einer frischen und tiefen Charakteristik.<lb/> Diesen Weg fand Händel wie keiner vor ihm, und das verleiht seinen Opern<lb/> eine so fesselnde dramatische Wahrheit. Nur muß man bei der Beurtheilung<lb/> derselben den eigentlich musikalischen Standpunkt stets festhalten, den» an dem<lb/> Bestreben, die Texte dramatisch umzugestalten, hat er sich uicht betheiligt (Seite 35).<lb/> Wenn man daher die Bühnenwerke des Lu»y, Rameau, Scarlatti und der neapoli¬<lb/> tanischen Schule, gewissermaßen auch Keisers und Purcells Opern als Vorstufen<lb/> der spätern Blüthe dramatischer Musik ansehen muß. so jsi das von Handels<lb/> Oper nicht zu sagen; in sich abgeschlossen fand sie auf demselben Boden keine<lb/> weitere Entwickelung, und ging in Handels eigentliches Musikdrama über,<lb/> ins Oratorium.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0510]
der französischen Musiktragödie als eine dritte Macht, welche die Eigenthüm¬
lichkeiten jener ungccinigt neben sich fortbestehen ließ. Auf diesem Grunde
bezeichnet sie den Uebergang aus einer dramatisch noch unvollkommenen Oper zu
einer in sich vollkommenen dramatischen Concertmusik (Seite 24). Es war ein
Schritt mehr seitwärts als vorwärts, jedenfalls aber ein unumgänglich nothwendi¬
ger, und führte eine wesentliche Läuterung und innere Durchbildung der Form mit
sich. Die höchste Ausbildung der Oper ist deshalb Händel keineswegs zuzu¬
schreiben, sondern erst ein Verdienst Glück's und Mozart's. Mit seinen Vor¬
gängern und älteren Zeitgenossen verglichen erscheint Händel bei entschiedener
künstlerischer Ueberlegenheit nie originalitätssüchtig, sondern beschied sich an
die vorhandenen Formen anzuknüpfen, um sie'je nach dem Bedürfnisse der Idee
des Schönen entsprechender zu gestalten. Mehr die innere Durchbildung zum
Charakteristischen, zum Schönen und geistig Freien, als die äußere Vermehrung
des Tonmateriats kennzeichnet sein Schaffen. Scarlatti wurde von ihm im
Pathetischen, im vollen Ausdruck tiefer Gemüthsbewegung, im rein Leiden¬
schaftlichen und Großen, sowie in der freieren und reicheren Gestaltung des
instrumentalen Satzes vervollkommnet. Dabei muß man Händel den Preis,
seinem großen Vorgänger (Scarlatti) aber vielfach die Originalität zusprechen.
Die Handlung der italienischen Oper flößte an sich nur geringe Theilnahme
ein, die einzelnen Charaktere und ihre individuellen Unterschiede erschienen ver¬
wischt durch die zu musikalischen Zwecken unternommene Verallgemeinerung.'
Daher wurden solche Opern einander so ähnlich, daß die Handlung in Gefahr
gerieth vor dem, was Sopran, Alt, Tenor und Baß bedeuten, völlig zu ver¬
schwinden. Weil aber diese Verallgemeinerung zum Theil aus einem richtigen
musikalischen Triebe entsprang, aus dem Bestreben nämlich, die verschiedenen,
das Leben bewegenden Charaktere auf gewisse Grundtypen zusammenzuziehe»,
damit es dem kunstvollen Tonausdruck möglich würde, ein treues und rechtes
Bild des Lebens mit seinen eigenen Mitteln zu zeichnen: so stand jedem rich¬
tig empfindenden Tongeiste auch in einer nur oberflächlich angelegte» Hand¬
lung noch immer der Weg offen zu einer frischen und tiefen Charakteristik.
Diesen Weg fand Händel wie keiner vor ihm, und das verleiht seinen Opern
eine so fesselnde dramatische Wahrheit. Nur muß man bei der Beurtheilung
derselben den eigentlich musikalischen Standpunkt stets festhalten, den» an dem
Bestreben, die Texte dramatisch umzugestalten, hat er sich uicht betheiligt (Seite 35).
Wenn man daher die Bühnenwerke des Lu»y, Rameau, Scarlatti und der neapoli¬
tanischen Schule, gewissermaßen auch Keisers und Purcells Opern als Vorstufen
der spätern Blüthe dramatischer Musik ansehen muß. so jsi das von Handels
Oper nicht zu sagen; in sich abgeschlossen fand sie auf demselben Boden keine
weitere Entwickelung, und ging in Handels eigentliches Musikdrama über,
ins Oratorium.
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