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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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seine Festigfeit zu erschüttern, und selbst neben Bach und Beethoven, welche
auf andern Bahnen ebenfalls zum Höchsten vorzudringen vermochten, hat es
seine Geltung behalten. Das Unternehmen, dem Händel in London zuerst seine
Thätigkeit zuwendete, war die italienische Opernakademie. Entstanden zu einer
Zeit, wo der Südseeschwindel eine Menge ähnlicher Unternehmungen empor¬
trieb, konnte sie ihre Abkunft zwar nicht verleugnen, doch schon durch ihren
Kunstzweck auf höhere Geltung Ansprüche machen. Und es ist merkwürdig,
welche Macht wir die Tonkunst in diesem versumpften Stillstand aller übrigen
bessern Kräfte gewinnen sehe". Mit Händel tritt sie "frei vor alle Welt hin.
zweierlei erstrebend: innere Bollendung für sich, und Heranbildung der Oeffent-
lichkeit für das Verständniß der Kunstwerke. So erleben wir denn das für
unmöglich Gehaltene, das; diese Kunst auf Jahrzehnte die Grundkraft, der
Träger der geschichtlichen Entwicklung wird; daß sie das Schlechte der Zeit
nach und nach ausscheidet, die bessern Kräfte aller Art sammelt, fortleitet und
läutert, bis sie mit neuer Stärke in andere Gebiete überströmen konnten." Zu
so bedeutenden Ergebnissen gelangt auch die Musikgeschichte, wenn sie mit der
Betrachtung des gleichzeitigen Cultur- und Sittenzustandes Hand in Hand geht.
Bisher ist ihr dieser Gesichtspunkt noch ziemlich fremd gewesen; hätten unsere
früheren Musikhistoriker die Kunst nicht allein für sich, sondern in ihren Wechsel¬
wirkungen mit dem Leben untersucht, so wären wir jetzt weiter. Das keines¬
wegs aus den lautersten Elementen hervorgegangene Opernunternehmen wurde
durch Händel die Grundlage eines späteren Gemeinsinnes für die Kunst, und
wieviel die Musik zur Veredlung der Sitten beigetragen, geht aus der stets
wachsenden Zahl der um Händel sich schaarenden Verehrer hervor. Als er seine
höchsten oratorischen Schöpfungen hinstellte, war das ganze gebildete Volk auf
deu Punkt gelangt, das Erhabene zu empfangen und zu würdigen.

Den betretenen Boden mußte Händel Schritt vor Schritt erobern. Nicht
daß den Bessern die Bedeutung seiner Werke einen Augenblick zweifelhaft ge¬
blieben wäre; ein großer Theil des Volkes jedoch, namentlich der gebildete
Mittelstand sowie der Landadel, war ans nationalen Gründen dem Treiben
der Ausländer abhold. Der hohe Adel dachte zwar anders, war aber in Par¬
teien für Händel und die Italiener getheilt. Ariosti kam weniger in Betracht.
Bononcini jedoch machte Versuche, die Kunstherrschaft zu usurpiren. wurde aber
nach und nach von Händel eines Bessem belehrt und verließ endlich England,
nachdem er sich noch mit dem Schimpf der Aneigung fremden Eigenthums
(eines Madrigals von Lilli) befleckt hatte. Für die Akademie schrieb Händel
zwölf Opern, welch/ selbst nach Frankreich sich verbreiteten; später noch neun¬
zehn.

Die Händelsche Oper ging wesentlich von der italienischen aus. wie Chry-
sander sagt, dessen Darstellung wir folgen, erschien aber neben dieser und neben
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seine Festigfeit zu erschüttern, und selbst neben Bach und Beethoven, welche
auf andern Bahnen ebenfalls zum Höchsten vorzudringen vermochten, hat es
seine Geltung behalten. Das Unternehmen, dem Händel in London zuerst seine
Thätigkeit zuwendete, war die italienische Opernakademie. Entstanden zu einer
Zeit, wo der Südseeschwindel eine Menge ähnlicher Unternehmungen empor¬
trieb, konnte sie ihre Abkunft zwar nicht verleugnen, doch schon durch ihren
Kunstzweck auf höhere Geltung Ansprüche machen. Und es ist merkwürdig,
welche Macht wir die Tonkunst in diesem versumpften Stillstand aller übrigen
bessern Kräfte gewinnen sehe». Mit Händel tritt sie „frei vor alle Welt hin.
zweierlei erstrebend: innere Bollendung für sich, und Heranbildung der Oeffent-
lichkeit für das Verständniß der Kunstwerke. So erleben wir denn das für
unmöglich Gehaltene, das; diese Kunst auf Jahrzehnte die Grundkraft, der
Träger der geschichtlichen Entwicklung wird; daß sie das Schlechte der Zeit
nach und nach ausscheidet, die bessern Kräfte aller Art sammelt, fortleitet und
läutert, bis sie mit neuer Stärke in andere Gebiete überströmen konnten." Zu
so bedeutenden Ergebnissen gelangt auch die Musikgeschichte, wenn sie mit der
Betrachtung des gleichzeitigen Cultur- und Sittenzustandes Hand in Hand geht.
Bisher ist ihr dieser Gesichtspunkt noch ziemlich fremd gewesen; hätten unsere
früheren Musikhistoriker die Kunst nicht allein für sich, sondern in ihren Wechsel¬
wirkungen mit dem Leben untersucht, so wären wir jetzt weiter. Das keines¬
wegs aus den lautersten Elementen hervorgegangene Opernunternehmen wurde
durch Händel die Grundlage eines späteren Gemeinsinnes für die Kunst, und
wieviel die Musik zur Veredlung der Sitten beigetragen, geht aus der stets
wachsenden Zahl der um Händel sich schaarenden Verehrer hervor. Als er seine
höchsten oratorischen Schöpfungen hinstellte, war das ganze gebildete Volk auf
deu Punkt gelangt, das Erhabene zu empfangen und zu würdigen.

Den betretenen Boden mußte Händel Schritt vor Schritt erobern. Nicht
daß den Bessern die Bedeutung seiner Werke einen Augenblick zweifelhaft ge¬
blieben wäre; ein großer Theil des Volkes jedoch, namentlich der gebildete
Mittelstand sowie der Landadel, war ans nationalen Gründen dem Treiben
der Ausländer abhold. Der hohe Adel dachte zwar anders, war aber in Par¬
teien für Händel und die Italiener getheilt. Ariosti kam weniger in Betracht.
Bononcini jedoch machte Versuche, die Kunstherrschaft zu usurpiren. wurde aber
nach und nach von Händel eines Bessem belehrt und verließ endlich England,
nachdem er sich noch mit dem Schimpf der Aneigung fremden Eigenthums
(eines Madrigals von Lilli) befleckt hatte. Für die Akademie schrieb Händel
zwölf Opern, welch/ selbst nach Frankreich sich verbreiteten; später noch neun¬
zehn.

Die Händelsche Oper ging wesentlich von der italienischen aus. wie Chry-
sander sagt, dessen Darstellung wir folgen, erschien aber neben dieser und neben
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[0509] seine Festigfeit zu erschüttern, und selbst neben Bach und Beethoven, welche auf andern Bahnen ebenfalls zum Höchsten vorzudringen vermochten, hat es seine Geltung behalten. Das Unternehmen, dem Händel in London zuerst seine Thätigkeit zuwendete, war die italienische Opernakademie. Entstanden zu einer Zeit, wo der Südseeschwindel eine Menge ähnlicher Unternehmungen empor¬ trieb, konnte sie ihre Abkunft zwar nicht verleugnen, doch schon durch ihren Kunstzweck auf höhere Geltung Ansprüche machen. Und es ist merkwürdig, welche Macht wir die Tonkunst in diesem versumpften Stillstand aller übrigen bessern Kräfte gewinnen sehe». Mit Händel tritt sie „frei vor alle Welt hin. zweierlei erstrebend: innere Bollendung für sich, und Heranbildung der Oeffent- lichkeit für das Verständniß der Kunstwerke. So erleben wir denn das für unmöglich Gehaltene, das; diese Kunst auf Jahrzehnte die Grundkraft, der Träger der geschichtlichen Entwicklung wird; daß sie das Schlechte der Zeit nach und nach ausscheidet, die bessern Kräfte aller Art sammelt, fortleitet und läutert, bis sie mit neuer Stärke in andere Gebiete überströmen konnten." Zu so bedeutenden Ergebnissen gelangt auch die Musikgeschichte, wenn sie mit der Betrachtung des gleichzeitigen Cultur- und Sittenzustandes Hand in Hand geht. Bisher ist ihr dieser Gesichtspunkt noch ziemlich fremd gewesen; hätten unsere früheren Musikhistoriker die Kunst nicht allein für sich, sondern in ihren Wechsel¬ wirkungen mit dem Leben untersucht, so wären wir jetzt weiter. Das keines¬ wegs aus den lautersten Elementen hervorgegangene Opernunternehmen wurde durch Händel die Grundlage eines späteren Gemeinsinnes für die Kunst, und wieviel die Musik zur Veredlung der Sitten beigetragen, geht aus der stets wachsenden Zahl der um Händel sich schaarenden Verehrer hervor. Als er seine höchsten oratorischen Schöpfungen hinstellte, war das ganze gebildete Volk auf deu Punkt gelangt, das Erhabene zu empfangen und zu würdigen. Den betretenen Boden mußte Händel Schritt vor Schritt erobern. Nicht daß den Bessern die Bedeutung seiner Werke einen Augenblick zweifelhaft ge¬ blieben wäre; ein großer Theil des Volkes jedoch, namentlich der gebildete Mittelstand sowie der Landadel, war ans nationalen Gründen dem Treiben der Ausländer abhold. Der hohe Adel dachte zwar anders, war aber in Par¬ teien für Händel und die Italiener getheilt. Ariosti kam weniger in Betracht. Bononcini jedoch machte Versuche, die Kunstherrschaft zu usurpiren. wurde aber nach und nach von Händel eines Bessem belehrt und verließ endlich England, nachdem er sich noch mit dem Schimpf der Aneigung fremden Eigenthums (eines Madrigals von Lilli) befleckt hatte. Für die Akademie schrieb Händel zwölf Opern, welch/ selbst nach Frankreich sich verbreiteten; später noch neun¬ zehn. Die Händelsche Oper ging wesentlich von der italienischen aus. wie Chry- sander sagt, dessen Darstellung wir folgen, erschien aber neben dieser und neben * 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/509>, abgerufen am 15.01.2025.