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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Sentimentalität unserer nervenschwachen Jünglinge und schwindsüchtiger
Mädchen macht schläfrig und erhitzt, wie unsere überzuckerten Modeliqueurs."
-- Lion ist noch immer nicht 17 Jahr alt, aber dies Epigramm könnte recht
gut in Bornes sämmtlichen Werken stehen.

Seit dieser Zeit heißt Madame Herz seine "Mutter", er küßt ihr noch
gern und zärtlich die Hand, aber gcrirt sich doch nur als ihr krankes Kind.
Leider muß er sich von ihr trennen; er wird den 12. Juli 1803 nach Halle
geschickt, jetzt wirklich 17 Jahre alt. Was soll er in Halle?

"Bis Ostern, schreibt er aus Halle den 19. Juli, soll ich noch auf der
Schule gehn und den ganzen Tag nichts weiter lernen als Lateinisch" u. s. w.
"Erst 6 Tage bin ich hier und schon hänge ich mit Leib und Seele an Halle;
vergessen ist Berlin und Alles, was mir dort theuer war. Frohsinn und Zu¬
friedenheit erfüllen mein Herz. Wandelt mich ja zuweilen ein schmerzliches
Gefühl an, so betrachte ich mit Wohlgefallen die eleganten Möbels, und weg
ist aller Schmerz. Wie sie wissen, ist ein Sopha immer der Gegenstand meiner
heißesten Wünsche gewesen: jetzt habe ich eins" u. s. w.

Mitten in dieser tragischen Ironie bekennt Louis die Fortdauer eines
Lasters, das sie ihm habe abgewöhnen wollen. Wir fürchten, dieses Laster
war nichts anders als Faulheit; er mochte wol lieber auf dem neuen
Sopha liegen als seine Schularbeit machen. Die Schilderungen aus Halle
sind' recht humoristisch, namentlich über die Reil'sche Familie, bei der er in
Pension ist. Als reicher junger Mann wird er sehr honorirt, man bewundert
seine Schnupftücher u. s. w. Madame Reil sagt ihm einmal: "ich weiß ge¬
wiß, wenn ich heute crcpire, mein Mann würde morgen die Herz heirathen,
er kann sie sehr gut leiden."

Nun ist er Studiosus, 18 Jahr alt, studirt den Jean Paul und das
"goldene Kalb": "wie dieses Buch hat mich noch keins gerührt (23. Sept.
1804); jetzt schaffe ich es mir eigen und lasse es herrlich binden. Oft denke
ich es selbst geschrieben zu haben." -- In der That fängt er auch sofort an,
in Jean Paul'scher Manier Exercitien zu machen, und schickt 12. Nov. 1804
folgenden Passus seines Tagebuchs mit nicht geringem Selbstgefühl an seine
mütterliche Freundin: "Der Traum ist der Schatten unseres Lebens, wie unser
Leben ist der Schatten eines kommenden. (Etwas alttestamcntarische Wort¬
folge!) Einst wenn die Sonne wird stehn über unserm Haupt, da werden
alle Schatten schwinden, dann blühen die Sterne, die Welten, Gott zeigt sich
uns ohne Schleier und ein Herz wird sich bewegen im Busen des Weltalls.
---Aber näher und näher schreitet jetzt die lichtlose Mitternacht. Wenn
die Liebe wird erblinden, reißen auseinander die Fragen der Natur; Welten ver¬
rauchen, Sterne fallen, das Chaos hört auf zu sein, und das Nichts wird
zernichtet."


Sentimentalität unserer nervenschwachen Jünglinge und schwindsüchtiger
Mädchen macht schläfrig und erhitzt, wie unsere überzuckerten Modeliqueurs."
— Lion ist noch immer nicht 17 Jahr alt, aber dies Epigramm könnte recht
gut in Bornes sämmtlichen Werken stehen.

Seit dieser Zeit heißt Madame Herz seine „Mutter", er küßt ihr noch
gern und zärtlich die Hand, aber gcrirt sich doch nur als ihr krankes Kind.
Leider muß er sich von ihr trennen; er wird den 12. Juli 1803 nach Halle
geschickt, jetzt wirklich 17 Jahre alt. Was soll er in Halle?

„Bis Ostern, schreibt er aus Halle den 19. Juli, soll ich noch auf der
Schule gehn und den ganzen Tag nichts weiter lernen als Lateinisch" u. s. w.
„Erst 6 Tage bin ich hier und schon hänge ich mit Leib und Seele an Halle;
vergessen ist Berlin und Alles, was mir dort theuer war. Frohsinn und Zu¬
friedenheit erfüllen mein Herz. Wandelt mich ja zuweilen ein schmerzliches
Gefühl an, so betrachte ich mit Wohlgefallen die eleganten Möbels, und weg
ist aller Schmerz. Wie sie wissen, ist ein Sopha immer der Gegenstand meiner
heißesten Wünsche gewesen: jetzt habe ich eins" u. s. w.

Mitten in dieser tragischen Ironie bekennt Louis die Fortdauer eines
Lasters, das sie ihm habe abgewöhnen wollen. Wir fürchten, dieses Laster
war nichts anders als Faulheit; er mochte wol lieber auf dem neuen
Sopha liegen als seine Schularbeit machen. Die Schilderungen aus Halle
sind' recht humoristisch, namentlich über die Reil'sche Familie, bei der er in
Pension ist. Als reicher junger Mann wird er sehr honorirt, man bewundert
seine Schnupftücher u. s. w. Madame Reil sagt ihm einmal: „ich weiß ge¬
wiß, wenn ich heute crcpire, mein Mann würde morgen die Herz heirathen,
er kann sie sehr gut leiden."

Nun ist er Studiosus, 18 Jahr alt, studirt den Jean Paul und das
„goldene Kalb": „wie dieses Buch hat mich noch keins gerührt (23. Sept.
1804); jetzt schaffe ich es mir eigen und lasse es herrlich binden. Oft denke
ich es selbst geschrieben zu haben." — In der That fängt er auch sofort an,
in Jean Paul'scher Manier Exercitien zu machen, und schickt 12. Nov. 1804
folgenden Passus seines Tagebuchs mit nicht geringem Selbstgefühl an seine
mütterliche Freundin: „Der Traum ist der Schatten unseres Lebens, wie unser
Leben ist der Schatten eines kommenden. (Etwas alttestamcntarische Wort¬
folge!) Einst wenn die Sonne wird stehn über unserm Haupt, da werden
alle Schatten schwinden, dann blühen die Sterne, die Welten, Gott zeigt sich
uns ohne Schleier und ein Herz wird sich bewegen im Busen des Weltalls.
---Aber näher und näher schreitet jetzt die lichtlose Mitternacht. Wenn
die Liebe wird erblinden, reißen auseinander die Fragen der Natur; Welten ver¬
rauchen, Sterne fallen, das Chaos hört auf zu sein, und das Nichts wird
zernichtet."


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[0478] Sentimentalität unserer nervenschwachen Jünglinge und schwindsüchtiger Mädchen macht schläfrig und erhitzt, wie unsere überzuckerten Modeliqueurs." — Lion ist noch immer nicht 17 Jahr alt, aber dies Epigramm könnte recht gut in Bornes sämmtlichen Werken stehen. Seit dieser Zeit heißt Madame Herz seine „Mutter", er küßt ihr noch gern und zärtlich die Hand, aber gcrirt sich doch nur als ihr krankes Kind. Leider muß er sich von ihr trennen; er wird den 12. Juli 1803 nach Halle geschickt, jetzt wirklich 17 Jahre alt. Was soll er in Halle? „Bis Ostern, schreibt er aus Halle den 19. Juli, soll ich noch auf der Schule gehn und den ganzen Tag nichts weiter lernen als Lateinisch" u. s. w. „Erst 6 Tage bin ich hier und schon hänge ich mit Leib und Seele an Halle; vergessen ist Berlin und Alles, was mir dort theuer war. Frohsinn und Zu¬ friedenheit erfüllen mein Herz. Wandelt mich ja zuweilen ein schmerzliches Gefühl an, so betrachte ich mit Wohlgefallen die eleganten Möbels, und weg ist aller Schmerz. Wie sie wissen, ist ein Sopha immer der Gegenstand meiner heißesten Wünsche gewesen: jetzt habe ich eins" u. s. w. Mitten in dieser tragischen Ironie bekennt Louis die Fortdauer eines Lasters, das sie ihm habe abgewöhnen wollen. Wir fürchten, dieses Laster war nichts anders als Faulheit; er mochte wol lieber auf dem neuen Sopha liegen als seine Schularbeit machen. Die Schilderungen aus Halle sind' recht humoristisch, namentlich über die Reil'sche Familie, bei der er in Pension ist. Als reicher junger Mann wird er sehr honorirt, man bewundert seine Schnupftücher u. s. w. Madame Reil sagt ihm einmal: „ich weiß ge¬ wiß, wenn ich heute crcpire, mein Mann würde morgen die Herz heirathen, er kann sie sehr gut leiden." Nun ist er Studiosus, 18 Jahr alt, studirt den Jean Paul und das „goldene Kalb": „wie dieses Buch hat mich noch keins gerührt (23. Sept. 1804); jetzt schaffe ich es mir eigen und lasse es herrlich binden. Oft denke ich es selbst geschrieben zu haben." — In der That fängt er auch sofort an, in Jean Paul'scher Manier Exercitien zu machen, und schickt 12. Nov. 1804 folgenden Passus seines Tagebuchs mit nicht geringem Selbstgefühl an seine mütterliche Freundin: „Der Traum ist der Schatten unseres Lebens, wie unser Leben ist der Schatten eines kommenden. (Etwas alttestamcntarische Wort¬ folge!) Einst wenn die Sonne wird stehn über unserm Haupt, da werden alle Schatten schwinden, dann blühen die Sterne, die Welten, Gott zeigt sich uns ohne Schleier und ein Herz wird sich bewegen im Busen des Weltalls. ---Aber näher und näher schreitet jetzt die lichtlose Mitternacht. Wenn die Liebe wird erblinden, reißen auseinander die Fragen der Natur; Welten ver¬ rauchen, Sterne fallen, das Chaos hört auf zu sein, und das Nichts wird zernichtet."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/478>, abgerufen am 26.08.2024.