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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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statt Beide, lahr statt legt :c., wiederum bleibt es ganz weg in Döah statt
Döhr, Hoa statt Haar. Das Ch in nicht läßt der Oberdeutsche gern w.v,;
er sagt net oder nit. Ueberhaupt sind Elisionen bei ihm gewöhnlich. Die
bestimmte Articulation, mit welcher der niederdeutsche das Hochdeutsche spricht,
klingt ihm fremdartig. Bei einer Reise ward ich zwischen Nürnberg und Re¬
gensburg in einer Schenke wegen Meiner Sprechweise gefragt, ob ich ein
Franzos sei? Außer'dem Laut der einzelnen Buchstaben geben,sich* mundart¬
liche Eigenheiten auch in der Betonung zu erkennen. So in dem niedersäch¬
sischen Tischler. Sattler. Kürschner. Pastor (im Kinderspiel beim Abzählen:
Edelmann, Bettelmann, Docter, Pastor). Directer.

> Hier fragt sich's endlich noch, wo das Schrifthochdeutsche im Lautsystem
sich am besten bewährt habe, wo es am bestimmtesten und deutlichsten arti-
culirt. am wohltönendsten und frei von provinzieller Färbung gesprochen werde?
Die Antwort lautet, wie bei der Frage nach deutscher Nationalität überhaupt,
daß es nicht an eine einzelne Landschaft gebunden sei, vielmehr über allen
schwebe. In den Herzlandschaften des alten Reichs oder in der Heimat von
Luthers Bibelübersetzung wird man seine beste Gestaltung in mündlicher Rede
keineswegs zu suchen haben; am nächsten kommt sie der Klassicität vielmehr
da, wo dem Hochdeutschen das Plattdeutsche in seiner vollen Giltigkeit zur
Seite steht und der Gegensatz den Satz- befestigt; also in Norddeutschland.
Alle Ehre nun in der That dem hannoverschen und holsteinischen Hochdeutsch '-
dennoch ist selbst von der seinen Aussprache von Celle und Kiel gar Manches
abzustreifen. Die vollendete Classicität ergibt sich erst aus der Negation
jeglichen Provinciellen Accents bei genau gegliederter Articulation. Diese,
Größe ist aber am durchgängigsten auf der Bühne zu finden; Reichs- und
Landtage, Kanzel, Katheder, Schule und Gericht stehen darin weit hinter jener
zurück/

Fällt nun von unseren aphoristischen Glossen über mundartliche Besonder¬
heiten ein Seitenblick auf das Dialektische. Mundartliche und speciell Vocale
in dem eigenthümlichen Gebrauch gewisser Wörter, Wortformen', Beugungen,
Redensarten und überhaupt auf das außerhalb des physiologischen Glieder¬
baues liegende symbolische der Sprache, so wird ihm ein so umfängliches
und massenhaft gefülltes Gebiet begegnen, daß bei einem bloßen Streifzug^
in dieses die Beschauung nur ein wirres Bild davontragen würde. D>e
Idiotismen im Gebrauch einzelner, in die hochdeutsche Schriftsprache nicht auf¬
genommener, Wörter allein bilden einen Riesenwald, dessen Stämme bis M'
Stunde noch nicht zahlbar geworden sind. Den historischen Abwandlungen
aber in dieser Wildniß vollständig gerecht zu werden, gehört zu den unauf¬
löslichen Problemen. Etwas ergiebig ist die Forschung nach dem Entstehungs¬
gründe einzelner Ausdrücke, der sich in localen Erlebnissen. Moden u. tgi-


statt Beide, lahr statt legt :c., wiederum bleibt es ganz weg in Döah statt
Döhr, Hoa statt Haar. Das Ch in nicht läßt der Oberdeutsche gern w.v,;
er sagt net oder nit. Ueberhaupt sind Elisionen bei ihm gewöhnlich. Die
bestimmte Articulation, mit welcher der niederdeutsche das Hochdeutsche spricht,
klingt ihm fremdartig. Bei einer Reise ward ich zwischen Nürnberg und Re¬
gensburg in einer Schenke wegen Meiner Sprechweise gefragt, ob ich ein
Franzos sei? Außer'dem Laut der einzelnen Buchstaben geben,sich* mundart¬
liche Eigenheiten auch in der Betonung zu erkennen. So in dem niedersäch¬
sischen Tischler. Sattler. Kürschner. Pastor (im Kinderspiel beim Abzählen:
Edelmann, Bettelmann, Docter, Pastor). Directer.

> Hier fragt sich's endlich noch, wo das Schrifthochdeutsche im Lautsystem
sich am besten bewährt habe, wo es am bestimmtesten und deutlichsten arti-
culirt. am wohltönendsten und frei von provinzieller Färbung gesprochen werde?
Die Antwort lautet, wie bei der Frage nach deutscher Nationalität überhaupt,
daß es nicht an eine einzelne Landschaft gebunden sei, vielmehr über allen
schwebe. In den Herzlandschaften des alten Reichs oder in der Heimat von
Luthers Bibelübersetzung wird man seine beste Gestaltung in mündlicher Rede
keineswegs zu suchen haben; am nächsten kommt sie der Klassicität vielmehr
da, wo dem Hochdeutschen das Plattdeutsche in seiner vollen Giltigkeit zur
Seite steht und der Gegensatz den Satz- befestigt; also in Norddeutschland.
Alle Ehre nun in der That dem hannoverschen und holsteinischen Hochdeutsch '-
dennoch ist selbst von der seinen Aussprache von Celle und Kiel gar Manches
abzustreifen. Die vollendete Classicität ergibt sich erst aus der Negation
jeglichen Provinciellen Accents bei genau gegliederter Articulation. Diese,
Größe ist aber am durchgängigsten auf der Bühne zu finden; Reichs- und
Landtage, Kanzel, Katheder, Schule und Gericht stehen darin weit hinter jener
zurück/

Fällt nun von unseren aphoristischen Glossen über mundartliche Besonder¬
heiten ein Seitenblick auf das Dialektische. Mundartliche und speciell Vocale
in dem eigenthümlichen Gebrauch gewisser Wörter, Wortformen', Beugungen,
Redensarten und überhaupt auf das außerhalb des physiologischen Glieder¬
baues liegende symbolische der Sprache, so wird ihm ein so umfängliches
und massenhaft gefülltes Gebiet begegnen, daß bei einem bloßen Streifzug^
in dieses die Beschauung nur ein wirres Bild davontragen würde. D>e
Idiotismen im Gebrauch einzelner, in die hochdeutsche Schriftsprache nicht auf¬
genommener, Wörter allein bilden einen Riesenwald, dessen Stämme bis M'
Stunde noch nicht zahlbar geworden sind. Den historischen Abwandlungen
aber in dieser Wildniß vollständig gerecht zu werden, gehört zu den unauf¬
löslichen Problemen. Etwas ergiebig ist die Forschung nach dem Entstehungs¬
gründe einzelner Ausdrücke, der sich in localen Erlebnissen. Moden u. tgi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/368>, abgerufen am 30.06.2024.