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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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liebes wieder aufathmet und hoffnungsvoll dem Wiedererwachen der verjüngten
Mutter Erde entgegenharrt. Wahrscheinlich begann sogar das älteste römische
Jahr mit dem kürzesten Tage und war das Solstitium zugleich eine Neujahrs¬
feier. Als jedoch diese Bedeutung in den Hintergrund trat, begann man da¬
für am 19. December das Andenken an das goldene Zeitalter unter der Herr¬
schaft Saturns zu erneuern und suchte' sich durch Aufhebung aller Trauer und
Werkeltagsthätigkeit und durch Herstellung einer ungezügelten Freiheit und
Gleichen in jene ideale Zeit der Unschuld zu versetzen, welche die unlogische
Phantasie-so gern in die graue Vorzeit zurückdatirt. Das Neujahr trennte
sich nun von den Saturnalien, die sich später zu drei Tagen (17. 18. und
19. December) und mit Hinzurechnung des Puppenmarktes (der Sigillarien)
zu einer Woche erweiterten und siel auf den ersten März, den ersten Tag des
zehnmonatlichen Jahres. Auch nachdem König Numa die Monate Januar
und Februar dem Jahre hinten angefügt hatte, scheint mit diesem Tage das
neue Jahr begonnen zu haben, und vielleicht darf man die später an den Ca-
lender des März noch gefeierten Matronalien, an welchen die Frauen für das
Glück der Ehe opferten, Geschenke erhielten und ihren Sklaven, wie die Haus¬
herrn an den Saturnalien, Festmahle gaben, als eine Spur jener alten Sitte
betrachten. Wann der Jahresanfang sich wieder der Wintersonnenwende ge¬
nähert hat, läßt sich nicht einmal annähernd bestimmen, da die Antrittszeit
der Consuln, die allerdings erst seit 153 v. Chr. auf den ersten Januar ver¬
legt worden ist, deshalb gar nichts beweist, weil sie vor diesem Jahre beinahe
alle fünfzig Jahre gewechselt hat. Es ist sogar möglich, daß schon in sehr
früher Zeit der März als erster Monat zählte, ohne daß das Jahr mit seinen
Calender begonnen hat.

Wenn wir uns in das Leben eines römischen Neujahrstags hineinversetzen wol¬
len, müssen wir sehr frühe das Lager verlassen. Die Hauptstadt der alten Welt er¬
wachte überhaupt beim ersten Hahncnruf, weil sie bald nach Sonnenuntergang zur
Ruhe ging und schon an gewöhnlichen Tagen waren die Straßen vor Sonnnen-
aufgang stark belebt. Nach dem Verlassen des Lagers beeilten sich die Hausgenos¬
sen, einander gegenseitig zu beglückwünschen und bemühten sich, dabei nur Worte
von guter Vorbedeutung zu brauchen, weil eine einzige Unvorsichtigkeit den Segen
des ganzen Jahres zu bedrohen schien. Aus derselben Rücksicht enthielt man
sich jedes Gezänkes und Streites und aller Flüche. Ja. weil eben Alles, was
man an diesem Tage that, bedeutungsvoll für die bevorstehende Zeit war,
snerte man das Neujahr nicht wie andere Festtage durch Enthaltung von jeder
Arbeit, sondern es herrschte der allgemeine Brauch, daß Jedermann etwas von
seinen gewöhnlichen Geschäften vornahm, um Trägheit und Erfolglosigkeit in
der Zukunft von sich fern zu halten. Deshalb versuchte sich der ackerbau¬
treibende Theil der Bevölkerung in mancherlei ländlichen Arbeiten, die Hand-


Grenzbotm I. 1301, 4

liebes wieder aufathmet und hoffnungsvoll dem Wiedererwachen der verjüngten
Mutter Erde entgegenharrt. Wahrscheinlich begann sogar das älteste römische
Jahr mit dem kürzesten Tage und war das Solstitium zugleich eine Neujahrs¬
feier. Als jedoch diese Bedeutung in den Hintergrund trat, begann man da¬
für am 19. December das Andenken an das goldene Zeitalter unter der Herr¬
schaft Saturns zu erneuern und suchte' sich durch Aufhebung aller Trauer und
Werkeltagsthätigkeit und durch Herstellung einer ungezügelten Freiheit und
Gleichen in jene ideale Zeit der Unschuld zu versetzen, welche die unlogische
Phantasie-so gern in die graue Vorzeit zurückdatirt. Das Neujahr trennte
sich nun von den Saturnalien, die sich später zu drei Tagen (17. 18. und
19. December) und mit Hinzurechnung des Puppenmarktes (der Sigillarien)
zu einer Woche erweiterten und siel auf den ersten März, den ersten Tag des
zehnmonatlichen Jahres. Auch nachdem König Numa die Monate Januar
und Februar dem Jahre hinten angefügt hatte, scheint mit diesem Tage das
neue Jahr begonnen zu haben, und vielleicht darf man die später an den Ca-
lender des März noch gefeierten Matronalien, an welchen die Frauen für das
Glück der Ehe opferten, Geschenke erhielten und ihren Sklaven, wie die Haus¬
herrn an den Saturnalien, Festmahle gaben, als eine Spur jener alten Sitte
betrachten. Wann der Jahresanfang sich wieder der Wintersonnenwende ge¬
nähert hat, läßt sich nicht einmal annähernd bestimmen, da die Antrittszeit
der Consuln, die allerdings erst seit 153 v. Chr. auf den ersten Januar ver¬
legt worden ist, deshalb gar nichts beweist, weil sie vor diesem Jahre beinahe
alle fünfzig Jahre gewechselt hat. Es ist sogar möglich, daß schon in sehr
früher Zeit der März als erster Monat zählte, ohne daß das Jahr mit seinen
Calender begonnen hat.

Wenn wir uns in das Leben eines römischen Neujahrstags hineinversetzen wol¬
len, müssen wir sehr frühe das Lager verlassen. Die Hauptstadt der alten Welt er¬
wachte überhaupt beim ersten Hahncnruf, weil sie bald nach Sonnenuntergang zur
Ruhe ging und schon an gewöhnlichen Tagen waren die Straßen vor Sonnnen-
aufgang stark belebt. Nach dem Verlassen des Lagers beeilten sich die Hausgenos¬
sen, einander gegenseitig zu beglückwünschen und bemühten sich, dabei nur Worte
von guter Vorbedeutung zu brauchen, weil eine einzige Unvorsichtigkeit den Segen
des ganzen Jahres zu bedrohen schien. Aus derselben Rücksicht enthielt man
sich jedes Gezänkes und Streites und aller Flüche. Ja. weil eben Alles, was
man an diesem Tage that, bedeutungsvoll für die bevorstehende Zeit war,
snerte man das Neujahr nicht wie andere Festtage durch Enthaltung von jeder
Arbeit, sondern es herrschte der allgemeine Brauch, daß Jedermann etwas von
seinen gewöhnlichen Geschäften vornahm, um Trägheit und Erfolglosigkeit in
der Zukunft von sich fern zu halten. Deshalb versuchte sich der ackerbau¬
treibende Theil der Bevölkerung in mancherlei ländlichen Arbeiten, die Hand-


Grenzbotm I. 1301, 4
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/35>, abgerufen am 22.07.2024.