Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

christlichen Pharisäertum, welches alle "unwiedergeborne" Tugend läugnet.
ist hier noch keine Rede.

Dann folgt freilich eine Theodicee. die mehr der christlichen Ueberlieferung
entspricht, die aber in der Mitte ihres Laufs inne hält, offenbar weil sie sich
. nicht weiter zu rathen weiß.

Es ist noch über die beiden lyrischen Gedichte zu reden. "Doris" möch¬
ten wir gegen Mörikofer in Schutz nehmen. Es wurde in jener Zeit von jungen
Mädchen ohne Arg gesungen, es behandelt die sinnlichen Empfindungen mit mög¬
lichster Discretion und enthält nicht blos trotz seiner'Weitschweifigkeit wirklich sehr
schöne Stellen, sondern wird auch im Ganzen durch einen frischen lebendigen
Zug getragen. Haller selbst freilich sagt bei der spätern Ausgabe seiner Ge¬
dichte: "bei diesem Gedicht habe ich fast nicht mit mir einig werden können,
was mir zu thun zukäme. Es ist ein Spiel meiner Jugend. Was uns im zwan¬
zigsten Jahre lebhaft und erlaubt vorkommt, das erscheint uns im sechzigsten
thöricht und unanständig. Sollten wir uns nicht vielmehr der Eitelkeit unserer
Jugend als des unschuldigen Zeitvertreibs unserer Kindheit schämen? Aber da
einmal dies Gedicht in so Vieler Händen ist, da ich es aus denselben zu
reißen unvermögend bin, so muß ich dieses Angedenken einer herrschenden und
endlich in einem gewissen Verstand unschuldigen Leidenschaft nur aufrecht lassen.
Die Jahrzahl selbst w>rd das Uebrige erklären." -- Das Gedicht ist nämlich
ein Jahr vor seiner Verheirathung gemacht, und Haller empfand sehr richtig,
daß, wer mit Marianne verheirathet ist, nicht solche Gedichte an Doris richten
darf. Aber er empfand sehr unrichtig, wenn er glaubt, daß uns im sechzigsten
-Mhr als unanständig erscheinen muß, was uns im zwanzigsten als anständig
erschien; unanständigrist es freilich, wenn der sechzigjährige fühlen will, wie er
"is Zwanzigjähriger gefühlt hat, aber eben so unanständig, wenn er dem
Zwanzigjährigen verargen will, so zu fühlen, wie er selber gefühlt hat. Uebrigens
hört man doch ans jenem pietistischen Stoßseufzer eine gewisse, wenn auch ver¬
haltene Vorliebe für die alte Empfindung heraus.

Was die "Trcmerodc an Marianne betrifft, so hat Mörikofer Unrecht,
wenn er den Anfang als das Schlechteste betrachtet. Der Anfang ist vielmehr
das Beste an diesem Gedicht, das sich zuletzt wieder in Weitschweifigkeiten ver-


Grenzboten. 1861. 35 ,

christlichen Pharisäertum, welches alle „unwiedergeborne" Tugend läugnet.
ist hier noch keine Rede.

Dann folgt freilich eine Theodicee. die mehr der christlichen Ueberlieferung
entspricht, die aber in der Mitte ihres Laufs inne hält, offenbar weil sie sich
. nicht weiter zu rathen weiß.

Es ist noch über die beiden lyrischen Gedichte zu reden. „Doris" möch¬
ten wir gegen Mörikofer in Schutz nehmen. Es wurde in jener Zeit von jungen
Mädchen ohne Arg gesungen, es behandelt die sinnlichen Empfindungen mit mög¬
lichster Discretion und enthält nicht blos trotz seiner'Weitschweifigkeit wirklich sehr
schöne Stellen, sondern wird auch im Ganzen durch einen frischen lebendigen
Zug getragen. Haller selbst freilich sagt bei der spätern Ausgabe seiner Ge¬
dichte: „bei diesem Gedicht habe ich fast nicht mit mir einig werden können,
was mir zu thun zukäme. Es ist ein Spiel meiner Jugend. Was uns im zwan¬
zigsten Jahre lebhaft und erlaubt vorkommt, das erscheint uns im sechzigsten
thöricht und unanständig. Sollten wir uns nicht vielmehr der Eitelkeit unserer
Jugend als des unschuldigen Zeitvertreibs unserer Kindheit schämen? Aber da
einmal dies Gedicht in so Vieler Händen ist, da ich es aus denselben zu
reißen unvermögend bin, so muß ich dieses Angedenken einer herrschenden und
endlich in einem gewissen Verstand unschuldigen Leidenschaft nur aufrecht lassen.
Die Jahrzahl selbst w>rd das Uebrige erklären." — Das Gedicht ist nämlich
ein Jahr vor seiner Verheirathung gemacht, und Haller empfand sehr richtig,
daß, wer mit Marianne verheirathet ist, nicht solche Gedichte an Doris richten
darf. Aber er empfand sehr unrichtig, wenn er glaubt, daß uns im sechzigsten
-Mhr als unanständig erscheinen muß, was uns im zwanzigsten als anständig
erschien; unanständigrist es freilich, wenn der sechzigjährige fühlen will, wie er
"is Zwanzigjähriger gefühlt hat, aber eben so unanständig, wenn er dem
Zwanzigjährigen verargen will, so zu fühlen, wie er selber gefühlt hat. Uebrigens
hört man doch ans jenem pietistischen Stoßseufzer eine gewisse, wenn auch ver¬
haltene Vorliebe für die alte Empfindung heraus.

Was die „Trcmerodc an Marianne betrifft, so hat Mörikofer Unrecht,
wenn er den Anfang als das Schlechteste betrachtet. Der Anfang ist vielmehr
das Beste an diesem Gedicht, das sich zuletzt wieder in Weitschweifigkeiten ver-


Grenzboten. 1861. 35 ,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0283" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111177"/>
          <p xml:id="ID_959" prev="#ID_958"> christlichen Pharisäertum, welches alle &#x201E;unwiedergeborne" Tugend läugnet.<lb/>
ist hier noch keine Rede.</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_8" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_960"> Dann folgt freilich eine Theodicee. die mehr der christlichen Ueberlieferung<lb/>
entspricht, die aber in der Mitte ihres Laufs inne hält, offenbar weil sie sich<lb/>
. nicht weiter zu rathen weiß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_961"> Es ist noch über die beiden lyrischen Gedichte zu reden. &#x201E;Doris" möch¬<lb/>
ten wir gegen Mörikofer in Schutz nehmen. Es wurde in jener Zeit von jungen<lb/>
Mädchen ohne Arg gesungen, es behandelt die sinnlichen Empfindungen mit mög¬<lb/>
lichster Discretion und enthält nicht blos trotz seiner'Weitschweifigkeit wirklich sehr<lb/>
schöne Stellen, sondern wird auch im Ganzen durch einen frischen lebendigen<lb/>
Zug getragen. Haller selbst freilich sagt bei der spätern Ausgabe seiner Ge¬<lb/>
dichte: &#x201E;bei diesem Gedicht habe ich fast nicht mit mir einig werden können,<lb/>
was mir zu thun zukäme. Es ist ein Spiel meiner Jugend. Was uns im zwan¬<lb/>
zigsten Jahre lebhaft und erlaubt vorkommt, das erscheint uns im sechzigsten<lb/>
thöricht und unanständig. Sollten wir uns nicht vielmehr der Eitelkeit unserer<lb/>
Jugend als des unschuldigen Zeitvertreibs unserer Kindheit schämen? Aber da<lb/>
einmal dies Gedicht in so Vieler Händen ist, da ich es aus denselben zu<lb/>
reißen unvermögend bin, so muß ich dieses Angedenken einer herrschenden und<lb/>
endlich in einem gewissen Verstand unschuldigen Leidenschaft nur aufrecht lassen.<lb/>
Die Jahrzahl selbst w&gt;rd das Uebrige erklären." &#x2014; Das Gedicht ist nämlich<lb/>
ein Jahr vor seiner Verheirathung gemacht, und Haller empfand sehr richtig,<lb/>
daß, wer mit Marianne verheirathet ist, nicht solche Gedichte an Doris richten<lb/>
darf. Aber er empfand sehr unrichtig, wenn er glaubt, daß uns im sechzigsten<lb/>
-Mhr als unanständig erscheinen muß, was uns im zwanzigsten als anständig<lb/>
erschien; unanständigrist es freilich, wenn der sechzigjährige fühlen will, wie er<lb/>
"is Zwanzigjähriger gefühlt hat, aber eben so unanständig, wenn er dem<lb/>
Zwanzigjährigen verargen will, so zu fühlen, wie er selber gefühlt hat. Uebrigens<lb/>
hört man doch ans jenem pietistischen Stoßseufzer eine gewisse, wenn auch ver¬<lb/>
haltene Vorliebe für die alte Empfindung heraus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_962" next="#ID_963"> Was die &#x201E;Trcmerodc an Marianne betrifft, so hat Mörikofer Unrecht,<lb/>
wenn er den Anfang als das Schlechteste betrachtet. Der Anfang ist vielmehr<lb/>
das Beste an diesem Gedicht, das sich zuletzt wieder in Weitschweifigkeiten ver-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. 1861. 35 ,</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0283] christlichen Pharisäertum, welches alle „unwiedergeborne" Tugend läugnet. ist hier noch keine Rede. Dann folgt freilich eine Theodicee. die mehr der christlichen Ueberlieferung entspricht, die aber in der Mitte ihres Laufs inne hält, offenbar weil sie sich . nicht weiter zu rathen weiß. Es ist noch über die beiden lyrischen Gedichte zu reden. „Doris" möch¬ ten wir gegen Mörikofer in Schutz nehmen. Es wurde in jener Zeit von jungen Mädchen ohne Arg gesungen, es behandelt die sinnlichen Empfindungen mit mög¬ lichster Discretion und enthält nicht blos trotz seiner'Weitschweifigkeit wirklich sehr schöne Stellen, sondern wird auch im Ganzen durch einen frischen lebendigen Zug getragen. Haller selbst freilich sagt bei der spätern Ausgabe seiner Ge¬ dichte: „bei diesem Gedicht habe ich fast nicht mit mir einig werden können, was mir zu thun zukäme. Es ist ein Spiel meiner Jugend. Was uns im zwan¬ zigsten Jahre lebhaft und erlaubt vorkommt, das erscheint uns im sechzigsten thöricht und unanständig. Sollten wir uns nicht vielmehr der Eitelkeit unserer Jugend als des unschuldigen Zeitvertreibs unserer Kindheit schämen? Aber da einmal dies Gedicht in so Vieler Händen ist, da ich es aus denselben zu reißen unvermögend bin, so muß ich dieses Angedenken einer herrschenden und endlich in einem gewissen Verstand unschuldigen Leidenschaft nur aufrecht lassen. Die Jahrzahl selbst w>rd das Uebrige erklären." — Das Gedicht ist nämlich ein Jahr vor seiner Verheirathung gemacht, und Haller empfand sehr richtig, daß, wer mit Marianne verheirathet ist, nicht solche Gedichte an Doris richten darf. Aber er empfand sehr unrichtig, wenn er glaubt, daß uns im sechzigsten -Mhr als unanständig erscheinen muß, was uns im zwanzigsten als anständig erschien; unanständigrist es freilich, wenn der sechzigjährige fühlen will, wie er "is Zwanzigjähriger gefühlt hat, aber eben so unanständig, wenn er dem Zwanzigjährigen verargen will, so zu fühlen, wie er selber gefühlt hat. Uebrigens hört man doch ans jenem pietistischen Stoßseufzer eine gewisse, wenn auch ver¬ haltene Vorliebe für die alte Empfindung heraus. Was die „Trcmerodc an Marianne betrifft, so hat Mörikofer Unrecht, wenn er den Anfang als das Schlechteste betrachtet. Der Anfang ist vielmehr das Beste an diesem Gedicht, das sich zuletzt wieder in Weitschweifigkeiten ver- Grenzboten. 1861. 35 ,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/283
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/283>, abgerufen am 25.08.2024.