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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Bei weitem wichtiger ist c,as sittliche Moment. Es ist noch nicht genug
darauf ausmelksam gemacht, daß Haller, dessen poetische Sprache nicht tue
entfernteste Spur von SeMimentalltät zeigt, in Bezug auf die Stoffe der Va¬
ter der deutschen Empfindsamkeit genannt werden kann, und daß er darin der
Lorgänger Rousseaus ist. den er vom christlichen Standpunkt so ernsthaft
bekämpfte. Das Pathos des ganzen Gedichts ist nämlich d>c Sehnsucht des
städtischen Patriciers, der in seinen Umgebungen nur Selbstsucht und Heu¬
chelei erblickt, nach freier unbefangener Natur. Dies Ideal der Natur sucht
er theils in der wirklichen Natur >in Gegensai) zur Menschenwelt (d,e Welt,
sagt Schiller, ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt Mit seiner
Qual!) -- theils >n dem einfachen und beschränkten Leben der Alpenbewohner.
Dieses Leben, wie er es schildert, ist freilich ein Ideal, und die modernen
Dorfgeschichten haben ganz mit Recht nachgewiesen, daß Leidenschaft und Un¬
friede in der Hütte ebenso wohnen wie im Palast; aber es ist doch nur >o
el" Ideal wie das Deutschland des Tacitus oder der Frau von Staöl. Alle
dre, Schriftsteller schildern ihren Gegenstand im bewußten Contrast gegen
die Atmosphäre, die sie selber athmen, und durch diesen Contrast wird ihre
Anschauung gefärbt, aber eine wirklich sehr stark sinnliche Anschauung liegt
zu Grunde. Haller zeigt einen viel tiefern Blick als Geßner, da er seine
Sehnsucht auf ein wirkliches Bild heftet, während sich dieser in ein Fcenland
verliert, das er Arkadien tauft. Es ist überhaupt sehr interessant, bei den
Anfängen unserer schönen Literatur zu verfolgen, wie nahe die damaligen
Dichter dem Genre kamen, das wir heut das realistische nennen, wie aber
stets das Vorbild der vermeintlichen Antike dazwischen trat. So gibt z. B.
Aoß in seiner Schrift gegen Stolberg so außerordentlich schone Darstellungen
der gesellschaftlichen Naturzustände im Land Hadeln. daß wir heute gern ver¬
schiedene Luisen dafür hingeben würden, die Oden noch gar nicht mit gerechnet,
wenn er diese Vnder weiter ansgeführt hätte. Goethe hat in Hermann
und Dorothee mit dem Blick des Genius sogleich das Richtige getroffen, oö-
Slcich er jenen Naturzuständen viel ferner stand, in denen Voß wirtlich lebte
Und die er wol zu würdigen verstand, die er aber in der Poesie einem kindi¬
schen Unschuldsideal opferte.

Haller w.ar Berner Patricier und kannte auch als Gelehrter die hiel-
t>ehe Corruption sehr gut, die u, den höheren Ständen herrschte; wenn er
'br in den Alpen ein Ideal entgegenstellt, so charakterisier er sie in den drei
Mvßeu Satiren mit leidenschaftlichem Haß. Etwas Rhetorik ist freilich dabei
und namentlich in den "verdorbenen Sitten" geht das Bedürfniß der Dccla-
wativn nicht selten mit dem ruhigen Urtheil durch; aber grade in dieser teilten
Satire ist derselbe Grundton wie in den Alpen nicht zu verkennen. Sucht
" hier das Ideal patriarchalischer Zustände als Reisender, so findet er es dort


Bei weitem wichtiger ist c,as sittliche Moment. Es ist noch nicht genug
darauf ausmelksam gemacht, daß Haller, dessen poetische Sprache nicht tue
entfernteste Spur von SeMimentalltät zeigt, in Bezug auf die Stoffe der Va¬
ter der deutschen Empfindsamkeit genannt werden kann, und daß er darin der
Lorgänger Rousseaus ist. den er vom christlichen Standpunkt so ernsthaft
bekämpfte. Das Pathos des ganzen Gedichts ist nämlich d>c Sehnsucht des
städtischen Patriciers, der in seinen Umgebungen nur Selbstsucht und Heu¬
chelei erblickt, nach freier unbefangener Natur. Dies Ideal der Natur sucht
er theils in der wirklichen Natur >in Gegensai) zur Menschenwelt (d,e Welt,
sagt Schiller, ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt Mit seiner
Qual!) — theils >n dem einfachen und beschränkten Leben der Alpenbewohner.
Dieses Leben, wie er es schildert, ist freilich ein Ideal, und die modernen
Dorfgeschichten haben ganz mit Recht nachgewiesen, daß Leidenschaft und Un¬
friede in der Hütte ebenso wohnen wie im Palast; aber es ist doch nur >o
el» Ideal wie das Deutschland des Tacitus oder der Frau von Staöl. Alle
dre, Schriftsteller schildern ihren Gegenstand im bewußten Contrast gegen
die Atmosphäre, die sie selber athmen, und durch diesen Contrast wird ihre
Anschauung gefärbt, aber eine wirklich sehr stark sinnliche Anschauung liegt
zu Grunde. Haller zeigt einen viel tiefern Blick als Geßner, da er seine
Sehnsucht auf ein wirkliches Bild heftet, während sich dieser in ein Fcenland
verliert, das er Arkadien tauft. Es ist überhaupt sehr interessant, bei den
Anfängen unserer schönen Literatur zu verfolgen, wie nahe die damaligen
Dichter dem Genre kamen, das wir heut das realistische nennen, wie aber
stets das Vorbild der vermeintlichen Antike dazwischen trat. So gibt z. B.
Aoß in seiner Schrift gegen Stolberg so außerordentlich schone Darstellungen
der gesellschaftlichen Naturzustände im Land Hadeln. daß wir heute gern ver¬
schiedene Luisen dafür hingeben würden, die Oden noch gar nicht mit gerechnet,
wenn er diese Vnder weiter ansgeführt hätte. Goethe hat in Hermann
und Dorothee mit dem Blick des Genius sogleich das Richtige getroffen, oö-
Slcich er jenen Naturzuständen viel ferner stand, in denen Voß wirtlich lebte
Und die er wol zu würdigen verstand, die er aber in der Poesie einem kindi¬
schen Unschuldsideal opferte.

Haller w.ar Berner Patricier und kannte auch als Gelehrter die hiel-
t>ehe Corruption sehr gut, die u, den höheren Ständen herrschte; wenn er
'br in den Alpen ein Ideal entgegenstellt, so charakterisier er sie in den drei
Mvßeu Satiren mit leidenschaftlichem Haß. Etwas Rhetorik ist freilich dabei
und namentlich in den „verdorbenen Sitten" geht das Bedürfniß der Dccla-
wativn nicht selten mit dem ruhigen Urtheil durch; aber grade in dieser teilten
Satire ist derselbe Grundton wie in den Alpen nicht zu verkennen. Sucht
" hier das Ideal patriarchalischer Zustände als Reisender, so findet er es dort


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[0281] Bei weitem wichtiger ist c,as sittliche Moment. Es ist noch nicht genug darauf ausmelksam gemacht, daß Haller, dessen poetische Sprache nicht tue entfernteste Spur von SeMimentalltät zeigt, in Bezug auf die Stoffe der Va¬ ter der deutschen Empfindsamkeit genannt werden kann, und daß er darin der Lorgänger Rousseaus ist. den er vom christlichen Standpunkt so ernsthaft bekämpfte. Das Pathos des ganzen Gedichts ist nämlich d>c Sehnsucht des städtischen Patriciers, der in seinen Umgebungen nur Selbstsucht und Heu¬ chelei erblickt, nach freier unbefangener Natur. Dies Ideal der Natur sucht er theils in der wirklichen Natur >in Gegensai) zur Menschenwelt (d,e Welt, sagt Schiller, ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt Mit seiner Qual!) — theils >n dem einfachen und beschränkten Leben der Alpenbewohner. Dieses Leben, wie er es schildert, ist freilich ein Ideal, und die modernen Dorfgeschichten haben ganz mit Recht nachgewiesen, daß Leidenschaft und Un¬ friede in der Hütte ebenso wohnen wie im Palast; aber es ist doch nur >o el» Ideal wie das Deutschland des Tacitus oder der Frau von Staöl. Alle dre, Schriftsteller schildern ihren Gegenstand im bewußten Contrast gegen die Atmosphäre, die sie selber athmen, und durch diesen Contrast wird ihre Anschauung gefärbt, aber eine wirklich sehr stark sinnliche Anschauung liegt zu Grunde. Haller zeigt einen viel tiefern Blick als Geßner, da er seine Sehnsucht auf ein wirkliches Bild heftet, während sich dieser in ein Fcenland verliert, das er Arkadien tauft. Es ist überhaupt sehr interessant, bei den Anfängen unserer schönen Literatur zu verfolgen, wie nahe die damaligen Dichter dem Genre kamen, das wir heut das realistische nennen, wie aber stets das Vorbild der vermeintlichen Antike dazwischen trat. So gibt z. B. Aoß in seiner Schrift gegen Stolberg so außerordentlich schone Darstellungen der gesellschaftlichen Naturzustände im Land Hadeln. daß wir heute gern ver¬ schiedene Luisen dafür hingeben würden, die Oden noch gar nicht mit gerechnet, wenn er diese Vnder weiter ansgeführt hätte. Goethe hat in Hermann und Dorothee mit dem Blick des Genius sogleich das Richtige getroffen, oö- Slcich er jenen Naturzuständen viel ferner stand, in denen Voß wirtlich lebte Und die er wol zu würdigen verstand, die er aber in der Poesie einem kindi¬ schen Unschuldsideal opferte. Haller w.ar Berner Patricier und kannte auch als Gelehrter die hiel- t>ehe Corruption sehr gut, die u, den höheren Ständen herrschte; wenn er 'br in den Alpen ein Ideal entgegenstellt, so charakterisier er sie in den drei Mvßeu Satiren mit leidenschaftlichem Haß. Etwas Rhetorik ist freilich dabei und namentlich in den „verdorbenen Sitten" geht das Bedürfniß der Dccla- wativn nicht selten mit dem ruhigen Urtheil durch; aber grade in dieser teilten Satire ist derselbe Grundton wie in den Alpen nicht zu verkennen. Sucht " hier das Ideal patriarchalischer Zustände als Reisender, so findet er es dort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/281>, abgerufen am 24.08.2024.