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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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sicherste Mittel, Public Opinion zu erziehen und organisiren, das Neprcisen-
tativsystem. Das Publicum wählt seine Stadtverordneten, seine Schulzen,
seine Kreisvertreter, endlich seine Landtagsabgeordneten. Wenn es nun ein
Widerspruch scheint, einer formlosen Masse, der wir als solcher die Regierungs¬
fähigkeit absprechen, doch die Grundlage anzuvertrauen, auf welcher das
Staatsleben sich Vertrauen erwerben soll, so vergißt man das Princip der
Wechselwirkung. Die öffentliche Meinung kann in Augenblicken übergroßer
Erregung und übergroßer Erschlafftheit sehr unsinnige Dinge verüben; sie wird
aber im Durchschnitt, im regelmäßigen Verlauf der Tinge, das darstellen,
was das Volk wirklich ist, d. h. auch was ihm zukommt. Es ist damit
grade wie mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ein Hazardspieler kann
zwanzig Mal hintereinander auf Roth sehen und immer verlieren: deshalb
bleibt es doch wahr, daß eben so oft roth als schwarz fällt.

An einer andern Stelle der Rede des Professor Gneist können wir dies
näher erläutern. Da man gewöhnlich den Ausdruck der öffentliche Meinung
in der Presse sucht, so analysirt er die Wirksamkeit derselben: die Presse be¬
stehe im Durchschnitt aus mercantilen Unternehmungen der Buchhändler; um
zu rentiren. müsse sie dem Publicum die Waare bieten, die dieses begehre.
Einzelne Ausnahmen abgerechnet, reiche also die Macht der Presse über das
Publicum nicht weiter, als ihm den Spiegel vorzuhalten.

Andere haben das Gegentheil behauptet: die öffentliche Meinung werde
gradezu von der Presse gemacht; man könne dem Publicum vermittelst der
Presse alles aufreden, wozu man Lust habe. Man hat daher geglaubt, durch
Beschränkung und Beeinflussung der Presse die öffentliche Meinung redigiren
zu können.

Beide Behauptungen erweisen sich durch den Augenschein als unhaltbar.
Die öffentliche Meinung ist nicht eine tabula rasa, der man jeden beliebigen
Inhalt aufprägen; sie ist aber auch nicht eine von vornherein fest gegründete
Ueberzeugung, auf die man nicht einwirken könnte. Wir wollen den respect¬
widrigen Vergleich des Professor Gneist nicht im Mindesten perhorresciren:
das Durchschnittsverhältniß soll so sein wie er es angibt. Der Kaufmann
bietet dem Publicum eine Waare, welche dasselbe begehrt. Was aber begehrt
das Publicum? Wird es nur das hören, was es schon selber weiß? Nie und
unter keinen Umstünden! Das Publicum will etwas Neues lernen und will
sich erbauen, es verlangt von seinem Schriftsteller, daß er an den Punkt an¬
knüpfte, wo es steht, an seine Kenntnisse, Wünsche, Vorurtheile u. s. w.; abu
wenn der Schriftsteller ihm weiter nichts bieten wollte als dieses, so würde
es ihn bald zum Fenster hinauswerfen. Es verlangt vom Kaufmann einen
Schriftsteller, der sich einerseits sein Zutraun erwerbe, andrerseits aber als co
höher Gebildeter ihm imponire. Und da im Durchschnitt die Menschen


sicherste Mittel, Public Opinion zu erziehen und organisiren, das Neprcisen-
tativsystem. Das Publicum wählt seine Stadtverordneten, seine Schulzen,
seine Kreisvertreter, endlich seine Landtagsabgeordneten. Wenn es nun ein
Widerspruch scheint, einer formlosen Masse, der wir als solcher die Regierungs¬
fähigkeit absprechen, doch die Grundlage anzuvertrauen, auf welcher das
Staatsleben sich Vertrauen erwerben soll, so vergißt man das Princip der
Wechselwirkung. Die öffentliche Meinung kann in Augenblicken übergroßer
Erregung und übergroßer Erschlafftheit sehr unsinnige Dinge verüben; sie wird
aber im Durchschnitt, im regelmäßigen Verlauf der Tinge, das darstellen,
was das Volk wirklich ist, d. h. auch was ihm zukommt. Es ist damit
grade wie mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ein Hazardspieler kann
zwanzig Mal hintereinander auf Roth sehen und immer verlieren: deshalb
bleibt es doch wahr, daß eben so oft roth als schwarz fällt.

An einer andern Stelle der Rede des Professor Gneist können wir dies
näher erläutern. Da man gewöhnlich den Ausdruck der öffentliche Meinung
in der Presse sucht, so analysirt er die Wirksamkeit derselben: die Presse be¬
stehe im Durchschnitt aus mercantilen Unternehmungen der Buchhändler; um
zu rentiren. müsse sie dem Publicum die Waare bieten, die dieses begehre.
Einzelne Ausnahmen abgerechnet, reiche also die Macht der Presse über das
Publicum nicht weiter, als ihm den Spiegel vorzuhalten.

Andere haben das Gegentheil behauptet: die öffentliche Meinung werde
gradezu von der Presse gemacht; man könne dem Publicum vermittelst der
Presse alles aufreden, wozu man Lust habe. Man hat daher geglaubt, durch
Beschränkung und Beeinflussung der Presse die öffentliche Meinung redigiren
zu können.

Beide Behauptungen erweisen sich durch den Augenschein als unhaltbar.
Die öffentliche Meinung ist nicht eine tabula rasa, der man jeden beliebigen
Inhalt aufprägen; sie ist aber auch nicht eine von vornherein fest gegründete
Ueberzeugung, auf die man nicht einwirken könnte. Wir wollen den respect¬
widrigen Vergleich des Professor Gneist nicht im Mindesten perhorresciren:
das Durchschnittsverhältniß soll so sein wie er es angibt. Der Kaufmann
bietet dem Publicum eine Waare, welche dasselbe begehrt. Was aber begehrt
das Publicum? Wird es nur das hören, was es schon selber weiß? Nie und
unter keinen Umstünden! Das Publicum will etwas Neues lernen und will
sich erbauen, es verlangt von seinem Schriftsteller, daß er an den Punkt an¬
knüpfte, wo es steht, an seine Kenntnisse, Wünsche, Vorurtheile u. s. w.; abu
wenn der Schriftsteller ihm weiter nichts bieten wollte als dieses, so würde
es ihn bald zum Fenster hinauswerfen. Es verlangt vom Kaufmann einen
Schriftsteller, der sich einerseits sein Zutraun erwerbe, andrerseits aber als co
höher Gebildeter ihm imponire. Und da im Durchschnitt die Menschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/200>, abgerufen am 25.08.2024.