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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

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Wir haben leider nicht den Trost, daß Dahlmann von uns schied,
mit Zuversicht das Auge auf unsere Zukunft gerichtet, mit freudiger
Hoffnung auf bessere Zeiten das Herz erfüllt. Trübe und traurig war der
Inhalt seiner Gedanken, welche die politische Lage Europas und insbesondere
die Zustünde Deutschlands zum Gegenstand hatten. Sein Vertrauen zu den
bestehenden Gewalten wankte, seine Furcht vor dem drohenden Uebergewicht
zerstörender Mächte stieg. Ost wenn er von politischen Dingen sprach, von
dem, was wir erduldet, und von jenem, was uns bevorsteht, und wenn er
dann feine Befürchtungen und Sorgen laut werden ließ, umspielte seine Lippen
die Miene, als wollte er ausrufen, was er in jenen schlimmen Göttinger
Tagen in fein Handexemplar der "Verständigung" eingeschrieben: "Ich zittre
für mein Vaterland, wenn ich bedenke, daß Gott gerecht ist und daß diese
A, Sy. Gerechtigkeit nicht immer schlafen kann."




Die Lage der Dinge in der Türkei.

-- Seit einigen Wochen zweifelt man hier
nicht mehr daran, daß die Anleiheangelcgenheit als arrangirt anzusehen ist.
Die ersten Fonds derselben kamen Mitte dieses Monats aus Paris hier an
und vcliesen sich auf 12>/- Millionen Franken. Wenn die Anleihe schon wegen
der Größe der contrahirten Summe eine außergewöhnliche Bedeutung hat. so
darf sie eine noch höhere in politischer Hinsicht ansprechen. Sie ist bestimmt,
die nächsten und dringendst nothwendigen finanziellen Mittel behufs einer durch¬
greifenden Reform und Restauration des osmanischen Staatswesens darzu¬
reichen. Man erinnert sich in Europa, daß eine solche Reform unmittelbar
"ach dem Kriege erwartet, aber nicht nur nicht durchgeführt, soudern auch
kaum eingeleitet wurde. Die Türkei befand sich damals in jenem Zustande
der Erschöpfung, von dem nur sehr stark constituirte Reiche nach einem lang¬
dauernden und alle Anstrengungen herausfordernden Kampfe ausgeschlossen zu
sein pflegen. So lange der Krieg gewährt, hatte der Jntrigucnkampf, den
Mehrere Große wider einander seit einer langen Zeit führen, nothwendig pausircn
wüssen. Er trat aber um so stärker in den Vordergrund, nachdem er durch
den Friedensschluß wieder Raum gewonnen hatte. Es handelte sich nicht allein


Wir haben leider nicht den Trost, daß Dahlmann von uns schied,
mit Zuversicht das Auge auf unsere Zukunft gerichtet, mit freudiger
Hoffnung auf bessere Zeiten das Herz erfüllt. Trübe und traurig war der
Inhalt seiner Gedanken, welche die politische Lage Europas und insbesondere
die Zustünde Deutschlands zum Gegenstand hatten. Sein Vertrauen zu den
bestehenden Gewalten wankte, seine Furcht vor dem drohenden Uebergewicht
zerstörender Mächte stieg. Ost wenn er von politischen Dingen sprach, von
dem, was wir erduldet, und von jenem, was uns bevorsteht, und wenn er
dann feine Befürchtungen und Sorgen laut werden ließ, umspielte seine Lippen
die Miene, als wollte er ausrufen, was er in jenen schlimmen Göttinger
Tagen in fein Handexemplar der „Verständigung" eingeschrieben: „Ich zittre
für mein Vaterland, wenn ich bedenke, daß Gott gerecht ist und daß diese
A, Sy. Gerechtigkeit nicht immer schlafen kann."




Die Lage der Dinge in der Türkei.

— Seit einigen Wochen zweifelt man hier
nicht mehr daran, daß die Anleiheangelcgenheit als arrangirt anzusehen ist.
Die ersten Fonds derselben kamen Mitte dieses Monats aus Paris hier an
und vcliesen sich auf 12>/- Millionen Franken. Wenn die Anleihe schon wegen
der Größe der contrahirten Summe eine außergewöhnliche Bedeutung hat. so
darf sie eine noch höhere in politischer Hinsicht ansprechen. Sie ist bestimmt,
die nächsten und dringendst nothwendigen finanziellen Mittel behufs einer durch¬
greifenden Reform und Restauration des osmanischen Staatswesens darzu¬
reichen. Man erinnert sich in Europa, daß eine solche Reform unmittelbar
»ach dem Kriege erwartet, aber nicht nur nicht durchgeführt, soudern auch
kaum eingeleitet wurde. Die Türkei befand sich damals in jenem Zustande
der Erschöpfung, von dem nur sehr stark constituirte Reiche nach einem lang¬
dauernden und alle Anstrengungen herausfordernden Kampfe ausgeschlossen zu
sein pflegen. So lange der Krieg gewährt, hatte der Jntrigucnkampf, den
Mehrere Große wider einander seit einer langen Zeit führen, nothwendig pausircn
wüssen. Er trat aber um so stärker in den Vordergrund, nachdem er durch
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[0143] Wir haben leider nicht den Trost, daß Dahlmann von uns schied, mit Zuversicht das Auge auf unsere Zukunft gerichtet, mit freudiger Hoffnung auf bessere Zeiten das Herz erfüllt. Trübe und traurig war der Inhalt seiner Gedanken, welche die politische Lage Europas und insbesondere die Zustünde Deutschlands zum Gegenstand hatten. Sein Vertrauen zu den bestehenden Gewalten wankte, seine Furcht vor dem drohenden Uebergewicht zerstörender Mächte stieg. Ost wenn er von politischen Dingen sprach, von dem, was wir erduldet, und von jenem, was uns bevorsteht, und wenn er dann feine Befürchtungen und Sorgen laut werden ließ, umspielte seine Lippen die Miene, als wollte er ausrufen, was er in jenen schlimmen Göttinger Tagen in fein Handexemplar der „Verständigung" eingeschrieben: „Ich zittre für mein Vaterland, wenn ich bedenke, daß Gott gerecht ist und daß diese A, Sy. Gerechtigkeit nicht immer schlafen kann." Die Lage der Dinge in der Türkei. — Seit einigen Wochen zweifelt man hier nicht mehr daran, daß die Anleiheangelcgenheit als arrangirt anzusehen ist. Die ersten Fonds derselben kamen Mitte dieses Monats aus Paris hier an und vcliesen sich auf 12>/- Millionen Franken. Wenn die Anleihe schon wegen der Größe der contrahirten Summe eine außergewöhnliche Bedeutung hat. so darf sie eine noch höhere in politischer Hinsicht ansprechen. Sie ist bestimmt, die nächsten und dringendst nothwendigen finanziellen Mittel behufs einer durch¬ greifenden Reform und Restauration des osmanischen Staatswesens darzu¬ reichen. Man erinnert sich in Europa, daß eine solche Reform unmittelbar »ach dem Kriege erwartet, aber nicht nur nicht durchgeführt, soudern auch kaum eingeleitet wurde. Die Türkei befand sich damals in jenem Zustande der Erschöpfung, von dem nur sehr stark constituirte Reiche nach einem lang¬ dauernden und alle Anstrengungen herausfordernden Kampfe ausgeschlossen zu sein pflegen. So lange der Krieg gewährt, hatte der Jntrigucnkampf, den Mehrere Große wider einander seit einer langen Zeit führen, nothwendig pausircn wüssen. Er trat aber um so stärker in den Vordergrund, nachdem er durch den Friedensschluß wieder Raum gewonnen hatte. Es handelte sich nicht allein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/143>, abgerufen am 23.07.2024.