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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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teresse, aus dem unerschöpflichen Quell der lebendigen Muttersprache eine so große
Fluch klar und durchsichtig i" stattlicher Einfassung zusammengeschöpft zu finden.

Dabei kann man immer aufs Neue beobachten, wie vieles von der eigenen
Sprache dem einzelnen Lebenden fremd bleibt. Und ferner wie zahlreich sind Ab¬
leitungen, selbst Stammwörter, treffende charakteristische, schöne Ausdrücke und
Redensarten, welche in den letzten Jahrhunderten entstanden und wieder ver¬
klungen find. Jede Zeitbildung, ja jede kräftige Persönlichkeit hat Originelles
erfunden, und neben der Hauptmasse, welche lebendig auf viele folgende Ge¬
nerationen überging, aber, wie vieles Brauchbare und Schöne ist wieder so
verloren, daß es nicht einmal mehr im Volksmund und in den Dialekten
zu finden ist. Am meisten sind die Verlornen Stammwörter zu bedauern.
Denn jedes Stammwort, welches im Volke lebendig bleibt, ist dem Deutschen
ein lebendiges, immer neue Früchte tragendes Gebilde, welches eine Anzahl
abgeleiteter Wörter, so oft das Bedürfniß kommt, mit Leichtigkeit aus sich
entwickelt. Jeder Schriftsteller, welcher Einfluß auf die Mit- und Nachwelt
gewinnt, ist zugleich ein freier Verwalter des Sprachschatzes. Er vermag seltne'
Habe ans dem Alterthum zu bewahren, fast Verschollenes wieder zu beleben
und Fehleudes ganz neu zu erfinden. Unendlich. verschieden ist sowol die
Sprachgewalt, als der Wortreichthum, mit welchem der Einzelne arbeitet. Er
holt sein Sprachmatcrial zum Theil aus der Schriftsprache, der er den größten
Theil seiner Bildung verdankt, zum Theil von dem Dialekt der Heimath, aus
dem er heraufgewachsen ist. Nicht jeder Dialekt begünstigt in gleichem Maße
die Verwendung seiner Wörter und Redewendungen für die Schriftsprache,
aber auch nicht jede Persönlichkeit ist in gleicher Weise befähigt, den Dialekt
der Heimat zur Bereicherung der Schriftsprache auszubeuten. Es ist klar,
daß zu solcher Bereicherung der Sprache mehrere Vorzüge zusammentreffen
müssen, ein behagliches Ruhen in den angestammten Sprachtraditioncn, sou¬
veräne Leichtigkeit im Ausdruck, verbunden mit feinem Sprachsinn, und das
immer rege Bedürfniß nach energischem und characteristischen Ausdruck. Wol
bekannt ist, daß kein Deutscher in höherm Grade diese Sprachtugenden besaß,
als Luther, und im letzten Jahrhundert Goethe, die doch beide so sorglos im
Gebrauch ihres Reichthums sind. Und der würde eine große und feine Ar¬
beit wagen, der es unternähme, die bedeutenden Schriftsteller der Deutschen
nach ihrem Verhältniß zu ihrer Sprache zu charakterisiren. Es lohnt sehr
darauf zu achten, denn die deutsche Schriftsprache der Gegenwart steht wie
die ganze Nation erst in den Anfängen ihrer modernen Entwicklung. Sie ist
seit Lessing fast ausschließlich durch Gelehrte und Dichter gebildet worden,
nicht übergroß ist die Zahl solcher, welche sie mit freier Kraft handhabten,
noch steht sie zum Volk vornehm, spröde, oft pedantisch und arm. Durch das
Feuer der öffentlichen Beredtsamkeit, durch die Grazie leichter, gesellschaftlicher


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teresse, aus dem unerschöpflichen Quell der lebendigen Muttersprache eine so große
Fluch klar und durchsichtig i» stattlicher Einfassung zusammengeschöpft zu finden.

Dabei kann man immer aufs Neue beobachten, wie vieles von der eigenen
Sprache dem einzelnen Lebenden fremd bleibt. Und ferner wie zahlreich sind Ab¬
leitungen, selbst Stammwörter, treffende charakteristische, schöne Ausdrücke und
Redensarten, welche in den letzten Jahrhunderten entstanden und wieder ver¬
klungen find. Jede Zeitbildung, ja jede kräftige Persönlichkeit hat Originelles
erfunden, und neben der Hauptmasse, welche lebendig auf viele folgende Ge¬
nerationen überging, aber, wie vieles Brauchbare und Schöne ist wieder so
verloren, daß es nicht einmal mehr im Volksmund und in den Dialekten
zu finden ist. Am meisten sind die Verlornen Stammwörter zu bedauern.
Denn jedes Stammwort, welches im Volke lebendig bleibt, ist dem Deutschen
ein lebendiges, immer neue Früchte tragendes Gebilde, welches eine Anzahl
abgeleiteter Wörter, so oft das Bedürfniß kommt, mit Leichtigkeit aus sich
entwickelt. Jeder Schriftsteller, welcher Einfluß auf die Mit- und Nachwelt
gewinnt, ist zugleich ein freier Verwalter des Sprachschatzes. Er vermag seltne'
Habe ans dem Alterthum zu bewahren, fast Verschollenes wieder zu beleben
und Fehleudes ganz neu zu erfinden. Unendlich. verschieden ist sowol die
Sprachgewalt, als der Wortreichthum, mit welchem der Einzelne arbeitet. Er
holt sein Sprachmatcrial zum Theil aus der Schriftsprache, der er den größten
Theil seiner Bildung verdankt, zum Theil von dem Dialekt der Heimath, aus
dem er heraufgewachsen ist. Nicht jeder Dialekt begünstigt in gleichem Maße
die Verwendung seiner Wörter und Redewendungen für die Schriftsprache,
aber auch nicht jede Persönlichkeit ist in gleicher Weise befähigt, den Dialekt
der Heimat zur Bereicherung der Schriftsprache auszubeuten. Es ist klar,
daß zu solcher Bereicherung der Sprache mehrere Vorzüge zusammentreffen
müssen, ein behagliches Ruhen in den angestammten Sprachtraditioncn, sou¬
veräne Leichtigkeit im Ausdruck, verbunden mit feinem Sprachsinn, und das
immer rege Bedürfniß nach energischem und characteristischen Ausdruck. Wol
bekannt ist, daß kein Deutscher in höherm Grade diese Sprachtugenden besaß,
als Luther, und im letzten Jahrhundert Goethe, die doch beide so sorglos im
Gebrauch ihres Reichthums sind. Und der würde eine große und feine Ar¬
beit wagen, der es unternähme, die bedeutenden Schriftsteller der Deutschen
nach ihrem Verhältniß zu ihrer Sprache zu charakterisiren. Es lohnt sehr
darauf zu achten, denn die deutsche Schriftsprache der Gegenwart steht wie
die ganze Nation erst in den Anfängen ihrer modernen Entwicklung. Sie ist
seit Lessing fast ausschließlich durch Gelehrte und Dichter gebildet worden,
nicht übergroß ist die Zahl solcher, welche sie mit freier Kraft handhabten,
noch steht sie zum Volk vornehm, spröde, oft pedantisch und arm. Durch das
Feuer der öffentlichen Beredtsamkeit, durch die Grazie leichter, gesellschaftlicher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/87>, abgerufen am 15.01.2025.