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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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daß solche Stämme, welche mit ihren Bundesgenossen zwanzigtausend, dreißig¬
tausend Krieger in's Feld stellen konnten, eine Menschenmasse enthalten mu߬
ten, welche oft über die Hunderttausende hinausging, und nicht weniger nahe
lag der zweite Schluß, daß solche Menschenmenge auf scharfbegrenzten Raume
von kriegerischen Nachbarn umgeben, doch nur ezistiren konnte unter allen Be¬
dingungen einer, wenn auch einfachen, aber regelmäßigen und tüchtigen Pro-
duction der Lebensmittel und realen Bedürfnisse. Jetzt wissen wir. daß nicht
wenige deutsche Stämme schon zur Römerzeit in Verhältnissen lebten, welche
auf dem Lande bis in das späte Mittelalter bestanden haben, hier in einzel¬
nen Gehöften, dort in geschlossenen Dörfern, mit sorgfältig abgesteckten Gren¬
zen, in verschiedenartiger, aber sehr fester Eintheilung der Gemeindeflur, in
Höfen und Häusern, deren Beschaffenheit sich in manchen Gegenden bis auf
die neue Zeit wenig geändert hat. Wahrscheinlich hat wenig später, als Ta-
citus schrieb, der Marschbewohner an der Nordsee den ersten Damm gegen
die brandende See gezogen, schon stand sein Wohnsitz auf den Wurden, den
kleinen Erdhügeln, welche ihn bei tobender Fluth über dem Wasser erhielten,
schon breitete das altsächsische Haus sein weites Dach über die Diele mit
dem Herde, die kleinen Schlafzeiten und die Viehställe. Große Heerden von
Borstenvieh lagen im Schatten der Eichen- und Buchenwälder, Pferde und
Rinder, beide kleine Landrace, grasten ans dem Dorfanger, langlockige Schafe
an den trocknen Berglehnen; schon wurden mit dem Flaum der großen Gänse-
hecrden weiche Polster und Pfühle gestopft; die Frauen webten auf einfachem
Stuhle das Linnengewand, und vielbetretene Handelswege durchzogen das
Gebiet von Rhein und Weichsel nach allen Richtungen. Der fremde Händler,
welcher den Luxus und schwere Geldstücke der Römer in seinem Karren vor
das Haus des Landmannes fuhr, war sicher, von dem Wirth und der Haus¬
frau Pelzwerk des Waldes, hochgeschätzten Gänseflaum, blondes Haar der
Sklaven, Schinken und Würste aus dem Rauchfange einzutauschen, zuweilen
auch eigenthümliches Gewebe der Landschaft, sogar Toilettengegenftände, z. B.
eine feine Pomade zum Haarfärben. Es ist wahr, der kriegerische Hausherr
hielt seine Waffen in höherer Ehre, als den Pflug, aber wenn er nicht selbst
das Feld baute, so ging er nicht deshalb müßig, weil der Feldbau überhaupt
unbedeutend war, sondern weil der Stand der Freien bereits einen unholden
Aristokratismus entwickelt hatte; denn er hielt sehr darauf, daß ihm seine
Knechte den Grund bauten und die Unfreien von ihrem Ertrage Garben und
Viehhäupter abgaben. Er aber, der freie Krieger, war ein privilegirter Mann
nicht nur einer Gemeinde, auch in dem einfachen Staat, zu welchem er ge¬
hörte. Denn nicht in Gemeinden mit lockerm Zusammenhang lebten die
Landwirthe des alten Deutschlands, eine alte Landverfassung schloß sie zum
Volk zusammen, eng verbunden mit religiösen Erinnerungen und dem offene-


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daß solche Stämme, welche mit ihren Bundesgenossen zwanzigtausend, dreißig¬
tausend Krieger in's Feld stellen konnten, eine Menschenmasse enthalten mu߬
ten, welche oft über die Hunderttausende hinausging, und nicht weniger nahe
lag der zweite Schluß, daß solche Menschenmenge auf scharfbegrenzten Raume
von kriegerischen Nachbarn umgeben, doch nur ezistiren konnte unter allen Be¬
dingungen einer, wenn auch einfachen, aber regelmäßigen und tüchtigen Pro-
duction der Lebensmittel und realen Bedürfnisse. Jetzt wissen wir. daß nicht
wenige deutsche Stämme schon zur Römerzeit in Verhältnissen lebten, welche
auf dem Lande bis in das späte Mittelalter bestanden haben, hier in einzel¬
nen Gehöften, dort in geschlossenen Dörfern, mit sorgfältig abgesteckten Gren¬
zen, in verschiedenartiger, aber sehr fester Eintheilung der Gemeindeflur, in
Höfen und Häusern, deren Beschaffenheit sich in manchen Gegenden bis auf
die neue Zeit wenig geändert hat. Wahrscheinlich hat wenig später, als Ta-
citus schrieb, der Marschbewohner an der Nordsee den ersten Damm gegen
die brandende See gezogen, schon stand sein Wohnsitz auf den Wurden, den
kleinen Erdhügeln, welche ihn bei tobender Fluth über dem Wasser erhielten,
schon breitete das altsächsische Haus sein weites Dach über die Diele mit
dem Herde, die kleinen Schlafzeiten und die Viehställe. Große Heerden von
Borstenvieh lagen im Schatten der Eichen- und Buchenwälder, Pferde und
Rinder, beide kleine Landrace, grasten ans dem Dorfanger, langlockige Schafe
an den trocknen Berglehnen; schon wurden mit dem Flaum der großen Gänse-
hecrden weiche Polster und Pfühle gestopft; die Frauen webten auf einfachem
Stuhle das Linnengewand, und vielbetretene Handelswege durchzogen das
Gebiet von Rhein und Weichsel nach allen Richtungen. Der fremde Händler,
welcher den Luxus und schwere Geldstücke der Römer in seinem Karren vor
das Haus des Landmannes fuhr, war sicher, von dem Wirth und der Haus¬
frau Pelzwerk des Waldes, hochgeschätzten Gänseflaum, blondes Haar der
Sklaven, Schinken und Würste aus dem Rauchfange einzutauschen, zuweilen
auch eigenthümliches Gewebe der Landschaft, sogar Toilettengegenftände, z. B.
eine feine Pomade zum Haarfärben. Es ist wahr, der kriegerische Hausherr
hielt seine Waffen in höherer Ehre, als den Pflug, aber wenn er nicht selbst
das Feld baute, so ging er nicht deshalb müßig, weil der Feldbau überhaupt
unbedeutend war, sondern weil der Stand der Freien bereits einen unholden
Aristokratismus entwickelt hatte; denn er hielt sehr darauf, daß ihm seine
Knechte den Grund bauten und die Unfreien von ihrem Ertrage Garben und
Viehhäupter abgaben. Er aber, der freie Krieger, war ein privilegirter Mann
nicht nur einer Gemeinde, auch in dem einfachen Staat, zu welchem er ge¬
hörte. Denn nicht in Gemeinden mit lockerm Zusammenhang lebten die
Landwirthe des alten Deutschlands, eine alte Landverfassung schloß sie zum
Volk zusammen, eng verbunden mit religiösen Erinnerungen und dem offene-


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[0079] daß solche Stämme, welche mit ihren Bundesgenossen zwanzigtausend, dreißig¬ tausend Krieger in's Feld stellen konnten, eine Menschenmasse enthalten mu߬ ten, welche oft über die Hunderttausende hinausging, und nicht weniger nahe lag der zweite Schluß, daß solche Menschenmenge auf scharfbegrenzten Raume von kriegerischen Nachbarn umgeben, doch nur ezistiren konnte unter allen Be¬ dingungen einer, wenn auch einfachen, aber regelmäßigen und tüchtigen Pro- duction der Lebensmittel und realen Bedürfnisse. Jetzt wissen wir. daß nicht wenige deutsche Stämme schon zur Römerzeit in Verhältnissen lebten, welche auf dem Lande bis in das späte Mittelalter bestanden haben, hier in einzel¬ nen Gehöften, dort in geschlossenen Dörfern, mit sorgfältig abgesteckten Gren¬ zen, in verschiedenartiger, aber sehr fester Eintheilung der Gemeindeflur, in Höfen und Häusern, deren Beschaffenheit sich in manchen Gegenden bis auf die neue Zeit wenig geändert hat. Wahrscheinlich hat wenig später, als Ta- citus schrieb, der Marschbewohner an der Nordsee den ersten Damm gegen die brandende See gezogen, schon stand sein Wohnsitz auf den Wurden, den kleinen Erdhügeln, welche ihn bei tobender Fluth über dem Wasser erhielten, schon breitete das altsächsische Haus sein weites Dach über die Diele mit dem Herde, die kleinen Schlafzeiten und die Viehställe. Große Heerden von Borstenvieh lagen im Schatten der Eichen- und Buchenwälder, Pferde und Rinder, beide kleine Landrace, grasten ans dem Dorfanger, langlockige Schafe an den trocknen Berglehnen; schon wurden mit dem Flaum der großen Gänse- hecrden weiche Polster und Pfühle gestopft; die Frauen webten auf einfachem Stuhle das Linnengewand, und vielbetretene Handelswege durchzogen das Gebiet von Rhein und Weichsel nach allen Richtungen. Der fremde Händler, welcher den Luxus und schwere Geldstücke der Römer in seinem Karren vor das Haus des Landmannes fuhr, war sicher, von dem Wirth und der Haus¬ frau Pelzwerk des Waldes, hochgeschätzten Gänseflaum, blondes Haar der Sklaven, Schinken und Würste aus dem Rauchfange einzutauschen, zuweilen auch eigenthümliches Gewebe der Landschaft, sogar Toilettengegenftände, z. B. eine feine Pomade zum Haarfärben. Es ist wahr, der kriegerische Hausherr hielt seine Waffen in höherer Ehre, als den Pflug, aber wenn er nicht selbst das Feld baute, so ging er nicht deshalb müßig, weil der Feldbau überhaupt unbedeutend war, sondern weil der Stand der Freien bereits einen unholden Aristokratismus entwickelt hatte; denn er hielt sehr darauf, daß ihm seine Knechte den Grund bauten und die Unfreien von ihrem Ertrage Garben und Viehhäupter abgaben. Er aber, der freie Krieger, war ein privilegirter Mann nicht nur einer Gemeinde, auch in dem einfachen Staat, zu welchem er ge¬ hörte. Denn nicht in Gemeinden mit lockerm Zusammenhang lebten die Landwirthe des alten Deutschlands, eine alte Landverfassung schloß sie zum Volk zusammen, eng verbunden mit religiösen Erinnerungen und dem offene- 9*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/79>, abgerufen am 15.01.2025.