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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Neue Literatur der deutschen Alterthumstvissenschast.

Seit die Brüder Grimm gelehrt haben, wie wichtig für Kenntniß
früherer Culturzustände die deutschen Volkslieder, Sagen und Mährchen sind,
ist eine stille Gemeinde von Sammlern unablässig bemüht, diese Traditionen
aus alter Zeit dem Munde des Volkes abzulauschen, bevor sie vollends ver¬
klingen. Wenn auch zuweilen ungeschickter Dilettantismus an diesen ehren¬
werthen Bestrebungen hängt, so ist doch auch zu rühmen, daß nicht wenige
ansehnliche Gelehrte in dieser Richtung rastlos thätig sind. Selbst dem ge¬
bildeten Dilettanten ist jetzt möglich geworden, Nützliches zu fördern, denn die
richtigen Gesichtspunkte, nach denen Lieder, Märchen, Sagen und Volksge¬
bräuche gesammelt werden müssen, sind allgemein bekannt. Es wird nicht
mehr vorzugsweise der poetische Reiz gesucht, welcher zufällig solche Habe des
Volks verklärt, sondern es ist der mythologische und historische Inhalt, wel¬
cher die Sammler anzieht. Und der große Zweck aller solcher Auszeichnun¬
gen ist der: die Eigenthümlichkeit des deutschen Namens, Geist, Gemüth,
bis in eine entfernte Zeit zu erspähen, in welcher die geschichtlichen Nachrich¬
ten aufhören.

Durch diese und verwandte Quellensammlungen ist uns eine ganz neue
Kenntniß der ältesten Zeit aufgegangen; nach mancher Seite hin bereits so
reich und sicher, daß uns jetzt schon möglich ist, die Berichte des Cäsar und
Tacitus kritisch zu begutachten, Einseitigkeiten und Mängel ihrer Auffassung
zu verstehn.

Denn das Bild, welches die großen römischen Staatsmänner von den
Zuständen des deutschen Volkes geben, -- im Ganzen doch selbst bei Tacitus
kurze Notizen -- bedürfte dringend der Ergänzung und weiteren Ausführung.
Wol waren sie befähigt, die kriegerische Wucht, den sittlichen Kern und die
dauerhafte Tüchtigkeit der deutschen Natur zu würdigen, aber die Culturzustände,
die realen Grundlagen des deutschen Lebens, die älteste Production und die
sociale Ordnung der gefährlichen Völker sind von dem überfeinerten Italiener
ebenso unterschätzt worden, als Klima und Vegetation des Landes. Lange
hat man nach ihren Berichten die Germanen für wilde Kriegerstämme gehal¬
ten, die erst im Uebergange vom Nomadenleben zu einer losen Seßhaftigkeit
waren, und es siel selten einem Geschichtschreiber ein, zu fragen, wie es mög¬
lich war, daß solche Horden den disciplinirten Heeren der größten Erdennacht
durch Jahrhunderte siegreichen Widerstand leisten konnten. Wenn Cherusker,
Kutten. Brukterer und andere ^Völker von sehr geringer geographischer Aus¬
breitung römische Legionen schlagen konnten, so lag der Schluß doch nahe,


Neue Literatur der deutschen Alterthumstvissenschast.

Seit die Brüder Grimm gelehrt haben, wie wichtig für Kenntniß
früherer Culturzustände die deutschen Volkslieder, Sagen und Mährchen sind,
ist eine stille Gemeinde von Sammlern unablässig bemüht, diese Traditionen
aus alter Zeit dem Munde des Volkes abzulauschen, bevor sie vollends ver¬
klingen. Wenn auch zuweilen ungeschickter Dilettantismus an diesen ehren¬
werthen Bestrebungen hängt, so ist doch auch zu rühmen, daß nicht wenige
ansehnliche Gelehrte in dieser Richtung rastlos thätig sind. Selbst dem ge¬
bildeten Dilettanten ist jetzt möglich geworden, Nützliches zu fördern, denn die
richtigen Gesichtspunkte, nach denen Lieder, Märchen, Sagen und Volksge¬
bräuche gesammelt werden müssen, sind allgemein bekannt. Es wird nicht
mehr vorzugsweise der poetische Reiz gesucht, welcher zufällig solche Habe des
Volks verklärt, sondern es ist der mythologische und historische Inhalt, wel¬
cher die Sammler anzieht. Und der große Zweck aller solcher Auszeichnun¬
gen ist der: die Eigenthümlichkeit des deutschen Namens, Geist, Gemüth,
bis in eine entfernte Zeit zu erspähen, in welcher die geschichtlichen Nachrich¬
ten aufhören.

Durch diese und verwandte Quellensammlungen ist uns eine ganz neue
Kenntniß der ältesten Zeit aufgegangen; nach mancher Seite hin bereits so
reich und sicher, daß uns jetzt schon möglich ist, die Berichte des Cäsar und
Tacitus kritisch zu begutachten, Einseitigkeiten und Mängel ihrer Auffassung
zu verstehn.

Denn das Bild, welches die großen römischen Staatsmänner von den
Zuständen des deutschen Volkes geben, — im Ganzen doch selbst bei Tacitus
kurze Notizen — bedürfte dringend der Ergänzung und weiteren Ausführung.
Wol waren sie befähigt, die kriegerische Wucht, den sittlichen Kern und die
dauerhafte Tüchtigkeit der deutschen Natur zu würdigen, aber die Culturzustände,
die realen Grundlagen des deutschen Lebens, die älteste Production und die
sociale Ordnung der gefährlichen Völker sind von dem überfeinerten Italiener
ebenso unterschätzt worden, als Klima und Vegetation des Landes. Lange
hat man nach ihren Berichten die Germanen für wilde Kriegerstämme gehal¬
ten, die erst im Uebergange vom Nomadenleben zu einer losen Seßhaftigkeit
waren, und es siel selten einem Geschichtschreiber ein, zu fragen, wie es mög¬
lich war, daß solche Horden den disciplinirten Heeren der größten Erdennacht
durch Jahrhunderte siegreichen Widerstand leisten konnten. Wenn Cherusker,
Kutten. Brukterer und andere ^Völker von sehr geringer geographischer Aus¬
breitung römische Legionen schlagen konnten, so lag der Schluß doch nahe,


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[0078] Neue Literatur der deutschen Alterthumstvissenschast. Seit die Brüder Grimm gelehrt haben, wie wichtig für Kenntniß früherer Culturzustände die deutschen Volkslieder, Sagen und Mährchen sind, ist eine stille Gemeinde von Sammlern unablässig bemüht, diese Traditionen aus alter Zeit dem Munde des Volkes abzulauschen, bevor sie vollends ver¬ klingen. Wenn auch zuweilen ungeschickter Dilettantismus an diesen ehren¬ werthen Bestrebungen hängt, so ist doch auch zu rühmen, daß nicht wenige ansehnliche Gelehrte in dieser Richtung rastlos thätig sind. Selbst dem ge¬ bildeten Dilettanten ist jetzt möglich geworden, Nützliches zu fördern, denn die richtigen Gesichtspunkte, nach denen Lieder, Märchen, Sagen und Volksge¬ bräuche gesammelt werden müssen, sind allgemein bekannt. Es wird nicht mehr vorzugsweise der poetische Reiz gesucht, welcher zufällig solche Habe des Volks verklärt, sondern es ist der mythologische und historische Inhalt, wel¬ cher die Sammler anzieht. Und der große Zweck aller solcher Auszeichnun¬ gen ist der: die Eigenthümlichkeit des deutschen Namens, Geist, Gemüth, bis in eine entfernte Zeit zu erspähen, in welcher die geschichtlichen Nachrich¬ ten aufhören. Durch diese und verwandte Quellensammlungen ist uns eine ganz neue Kenntniß der ältesten Zeit aufgegangen; nach mancher Seite hin bereits so reich und sicher, daß uns jetzt schon möglich ist, die Berichte des Cäsar und Tacitus kritisch zu begutachten, Einseitigkeiten und Mängel ihrer Auffassung zu verstehn. Denn das Bild, welches die großen römischen Staatsmänner von den Zuständen des deutschen Volkes geben, — im Ganzen doch selbst bei Tacitus kurze Notizen — bedürfte dringend der Ergänzung und weiteren Ausführung. Wol waren sie befähigt, die kriegerische Wucht, den sittlichen Kern und die dauerhafte Tüchtigkeit der deutschen Natur zu würdigen, aber die Culturzustände, die realen Grundlagen des deutschen Lebens, die älteste Production und die sociale Ordnung der gefährlichen Völker sind von dem überfeinerten Italiener ebenso unterschätzt worden, als Klima und Vegetation des Landes. Lange hat man nach ihren Berichten die Germanen für wilde Kriegerstämme gehal¬ ten, die erst im Uebergange vom Nomadenleben zu einer losen Seßhaftigkeit waren, und es siel selten einem Geschichtschreiber ein, zu fragen, wie es mög¬ lich war, daß solche Horden den disciplinirten Heeren der größten Erdennacht durch Jahrhunderte siegreichen Widerstand leisten konnten. Wenn Cherusker, Kutten. Brukterer und andere ^Völker von sehr geringer geographischer Aus¬ breitung römische Legionen schlagen konnten, so lag der Schluß doch nahe,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/78>, abgerufen am 15.01.2025.