das Ideal höherer und niedrer Kunstfertigkeit, in gewissem Sinne allerdings die Spinnerin Berta der deutschen Mythologie. Von ihr leitete schon die älteste Zeit die Weberei ab, und die Sage wußte von manchen Prachtgewän¬ dern zu erzählen, welche Athena entweder sür sich selbst oder für andre Götter und Helden, namentlich für Herakles gewebt oder gestickt oder sonst sinn¬ reich verziert hatte. Sie war die Vorsteherin derer, die künstliche Schmuckar¬ beit fertigten: aber much die Zimmerleute und Schiffsbaumeister, die Wagcu- schmiede, Goldarbeiter, Töpfer sind von ihr belehrt. Und in später Zeit, als Griechenland längst entartet und auch in Rom das Gestirn des göttlichen Julus bereits verblichen war, als das Volk den Glauben an die Götter und die Achtung vor der Arbeit und vor sich selbst verloren hatte, da gefällt sich die Poesie darin, weitläufig auszuführen, wie auch der Waller, der Färber, der Schuhmacher, kurz wie Handwerk und Kunst sich ohne die blauäugige Pallas nicht zu rathen wüßten. In der Nähe des arkadischen Orchomenos war ein Tempel der Athena Mechanitis, und in den letzten Tagen des atti¬ schen Monats Pyanepsion, also in der ersten Hälfte des November, feierte man in Athen der göttlichen Lehrmeistern und Beschützerin der Künste und Handwerke das Fest der Schmiede, die Chaikeen und Athenäen, über welche uns leider ausführlichere Angaben fehlen. Vor Alters mag es ein allgemei¬ nes Volksfest gewesen sein: nach Beendigung der Sommerarbeit in der freien Natur wollte man sich sammeln und den Segen der hehren Göttin herab- flehen zum Beginn der Winterthütigkeit daheim. Während der rauhen aber kürzern Jahreszeit sollte durch häusliche Beschäftigung sür den eignen Heerd und sür das Wohl der Mitbürger dasselbe erreicht werben, was man in der mildern und langen Jahreshälfte durch Feldarbeit gewann: Familie und Staat sollten in allen ihren Bedürfnissen sicher gestellt werden. Darum betete man zu Athena. Das Fest war natürlich in späterer Zeit, entsprechend dem veränderten Volksgeiste der Griechen, von keiner großen Wichtigkeit mehr, und ward nur noch von den Handwerkern, besouders von den Schmieden, also, nach der Ansicht der großen Philosophen, von Wesen untergeordneter Art gefeiert. Ein Brauch blieb aber für alle Zeiten, der uns die ursprüng¬ liche Bedeutung und den Zusammenhang dieses Festes mit dem Hauptfeste der Göttin ahnen läßt. An den Chalkeen ward nämlich die Arbeit an dem Prachtpeplos der Athena begonnen, an welchem auserwählte Frauen und Jungfrauen Athens fast neun Monate lang ihre besten Künste der Weberei und Stickerei zu üben pflegten, bis am Haupttage der großen Panathenäen die Darbringung jenes reichen, mit den kunstvollsten Bildern geschmückten Obergewandes erfolgte, von welcher der bekannte Cellafries am Parthenon eine lebendige Anschauung gewährte.
Aufs Engste mit Athena verbunden erscheint wenigstens im attischen Cultus '
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das Ideal höherer und niedrer Kunstfertigkeit, in gewissem Sinne allerdings die Spinnerin Berta der deutschen Mythologie. Von ihr leitete schon die älteste Zeit die Weberei ab, und die Sage wußte von manchen Prachtgewän¬ dern zu erzählen, welche Athena entweder sür sich selbst oder für andre Götter und Helden, namentlich für Herakles gewebt oder gestickt oder sonst sinn¬ reich verziert hatte. Sie war die Vorsteherin derer, die künstliche Schmuckar¬ beit fertigten: aber much die Zimmerleute und Schiffsbaumeister, die Wagcu- schmiede, Goldarbeiter, Töpfer sind von ihr belehrt. Und in später Zeit, als Griechenland längst entartet und auch in Rom das Gestirn des göttlichen Julus bereits verblichen war, als das Volk den Glauben an die Götter und die Achtung vor der Arbeit und vor sich selbst verloren hatte, da gefällt sich die Poesie darin, weitläufig auszuführen, wie auch der Waller, der Färber, der Schuhmacher, kurz wie Handwerk und Kunst sich ohne die blauäugige Pallas nicht zu rathen wüßten. In der Nähe des arkadischen Orchomenos war ein Tempel der Athena Mechanitis, und in den letzten Tagen des atti¬ schen Monats Pyanepsion, also in der ersten Hälfte des November, feierte man in Athen der göttlichen Lehrmeistern und Beschützerin der Künste und Handwerke das Fest der Schmiede, die Chaikeen und Athenäen, über welche uns leider ausführlichere Angaben fehlen. Vor Alters mag es ein allgemei¬ nes Volksfest gewesen sein: nach Beendigung der Sommerarbeit in der freien Natur wollte man sich sammeln und den Segen der hehren Göttin herab- flehen zum Beginn der Winterthütigkeit daheim. Während der rauhen aber kürzern Jahreszeit sollte durch häusliche Beschäftigung sür den eignen Heerd und sür das Wohl der Mitbürger dasselbe erreicht werben, was man in der mildern und langen Jahreshälfte durch Feldarbeit gewann: Familie und Staat sollten in allen ihren Bedürfnissen sicher gestellt werden. Darum betete man zu Athena. Das Fest war natürlich in späterer Zeit, entsprechend dem veränderten Volksgeiste der Griechen, von keiner großen Wichtigkeit mehr, und ward nur noch von den Handwerkern, besouders von den Schmieden, also, nach der Ansicht der großen Philosophen, von Wesen untergeordneter Art gefeiert. Ein Brauch blieb aber für alle Zeiten, der uns die ursprüng¬ liche Bedeutung und den Zusammenhang dieses Festes mit dem Hauptfeste der Göttin ahnen läßt. An den Chalkeen ward nämlich die Arbeit an dem Prachtpeplos der Athena begonnen, an welchem auserwählte Frauen und Jungfrauen Athens fast neun Monate lang ihre besten Künste der Weberei und Stickerei zu üben pflegten, bis am Haupttage der großen Panathenäen die Darbringung jenes reichen, mit den kunstvollsten Bildern geschmückten Obergewandes erfolgte, von welcher der bekannte Cellafries am Parthenon eine lebendige Anschauung gewährte.
Aufs Engste mit Athena verbunden erscheint wenigstens im attischen Cultus '
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das Ideal höherer und niedrer Kunstfertigkeit, in gewissem Sinne allerdings
die Spinnerin Berta der deutschen Mythologie. Von ihr leitete schon die
älteste Zeit die Weberei ab, und die Sage wußte von manchen Prachtgewän¬
dern zu erzählen, welche Athena entweder sür sich selbst oder für andre Götter
und Helden, namentlich für Herakles gewebt oder gestickt oder sonst sinn¬
reich verziert hatte. Sie war die Vorsteherin derer, die künstliche Schmuckar¬
beit fertigten: aber much die Zimmerleute und Schiffsbaumeister, die Wagcu-
schmiede, Goldarbeiter, Töpfer sind von ihr belehrt. Und in später Zeit, als
Griechenland längst entartet und auch in Rom das Gestirn des göttlichen
Julus bereits verblichen war, als das Volk den Glauben an die Götter und
die Achtung vor der Arbeit und vor sich selbst verloren hatte, da gefällt sich
die Poesie darin, weitläufig auszuführen, wie auch der Waller, der Färber,
der Schuhmacher, kurz wie Handwerk und Kunst sich ohne die blauäugige
Pallas nicht zu rathen wüßten. In der Nähe des arkadischen Orchomenos
war ein Tempel der Athena Mechanitis, und in den letzten Tagen des atti¬
schen Monats Pyanepsion, also in der ersten Hälfte des November, feierte
man in Athen der göttlichen Lehrmeistern und Beschützerin der Künste und
Handwerke das Fest der Schmiede, die Chaikeen und Athenäen, über welche
uns leider ausführlichere Angaben fehlen. Vor Alters mag es ein allgemei¬
nes Volksfest gewesen sein: nach Beendigung der Sommerarbeit in der freien
Natur wollte man sich sammeln und den Segen der hehren Göttin herab-
flehen zum Beginn der Winterthütigkeit daheim. Während der rauhen aber
kürzern Jahreszeit sollte durch häusliche Beschäftigung sür den eignen Heerd
und sür das Wohl der Mitbürger dasselbe erreicht werben, was man in der
mildern und langen Jahreshälfte durch Feldarbeit gewann: Familie und
Staat sollten in allen ihren Bedürfnissen sicher gestellt werden. Darum betete
man zu Athena. Das Fest war natürlich in späterer Zeit, entsprechend dem
veränderten Volksgeiste der Griechen, von keiner großen Wichtigkeit mehr,
und ward nur noch von den Handwerkern, besouders von den Schmieden,
also, nach der Ansicht der großen Philosophen, von Wesen untergeordneter
Art gefeiert. Ein Brauch blieb aber für alle Zeiten, der uns die ursprüng¬
liche Bedeutung und den Zusammenhang dieses Festes mit dem Hauptfeste
der Göttin ahnen läßt. An den Chalkeen ward nämlich die Arbeit an dem
Prachtpeplos der Athena begonnen, an welchem auserwählte Frauen und
Jungfrauen Athens fast neun Monate lang ihre besten Künste der Weberei
und Stickerei zu üben pflegten, bis am Haupttage der großen Panathenäen
die Darbringung jenes reichen, mit den kunstvollsten Bildern geschmückten
Obergewandes erfolgte, von welcher der bekannte Cellafries am Parthenon
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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/71>, abgerufen am 24.01.2025.
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