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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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aber ihre negativen. Wenn ein solches Labyrinth von Gedanken und Empfin¬
dungen ein volles Menschenalter hindurch unermüdlich umgewühlt wird, so
entsteht nothwendig daraus bei der Masse der Leute, die doch gern der neuen
Bildung theilhaftig sein wollen, und die nicht fest auf ihren Füßen stehn, eine
große Verwirrung. Was ist eigentlich schön und was häßlich? was gut und
was böse? was ist ideal und was nicht? ja: was ist wirklich?

Dies war die Stimmung, in welcher die Erben der Romantik, die Jung¬
deutschen auftraten. Entweder drückten sie Verzweiflung aus über diese Zeit,
in der keiner wisse, wie er empfinden, wie er denken, wie er sich benehmen
solle; oder sie zeigten ein possenhaftes Behagen an diesem "jetoller je besser".
Die Unwahrheit der Romantik empfanden sie tief; ja sie schlössen sich den neuen
Freiheitsbestrebungen an -- die an sich mit dieser Schule des Weltschmerzes
und der Zerrissenheit gar nichts gemein hatte?" -- aber sie gaben denselben
eine subjective, dämmerhafte -- kurz, eine romantische Färbung.

Auf die Länge kann ein gesundes Volk eine solche Gespenster- und Masken-
wirthschaft nicht ertragen. Schon seit zwanzig Jahren hat sich auch in der
Literatur eine sehr bedeutende Reaction dagegen erhoben, die jetzt entschieden
siegreich ist. -- Beiläufig, man halte sich nicht an die Personen, oder die
Schulen und Parteien, die Reaction geschieht auch innerlich. -- Der lauteste
von den Wortführern des jungen Deutschland war Gustow; um nun zu
sehn, wie auch in ihm die Fühlfäden einen andern Halt gefunden haben, ver¬
gleiche man die "Ritter vom Geist" mit dem "Zauberer von Rom" -- nicht
in Bezug auf das Talent, das sich nicht wesentlich geändert hat, sondern in
Bezug auf den Stoff und die Tendenz. -- Die "Ritter vom Geist" sind noch
so jungdeutsch als möglich, d. h. sie schilderten eine Reihe von "Idealisten",
von Referendarien u. s. w., die zwar den Mund sehr voll nehmen über das,
was alles anders werden müßte, die aber im Besondern nicht die entfernteste
Idee von dem hatten, was sie eigentlich wollten. -- Der neue Roman dagegen
bemüht sich, auf Grundlage ziemlich umfassender Studien die katholische Kirche
zu schildern, wie sie im 19. Jahrhundert geworden ist, und welchen Einfluß
sie auf verschiedene Stände und Charaktere ausübt. Wir sind nicht gemeint,
den Vergleich weiter auszudehnen, aber in dieser einen Beziehung ist der
"Zauberer von Rom" mit Auerbachs Dorfgeschichten verwandt: er ist über¬
wiegend realistisch, er schildert Zustände, die Gutzkow sich nicht erträumt, son¬
dern die er durch unmittelbare Anschauung und durch Studien zu erforschen
bemüht gewesen ist.

Auerbach war im Kreise der "gebildeten Dichter" -- allenfalls Immermann
ausgenommen -- der erste, der diesen Ton anschlug; er fand im Publicum
eine sehr große Anerkennung, und eben deshalb im Kreise derer, die in der
alten bequemen Weise sortzudichten wünschten, große Anfechtungen. Wenig


aber ihre negativen. Wenn ein solches Labyrinth von Gedanken und Empfin¬
dungen ein volles Menschenalter hindurch unermüdlich umgewühlt wird, so
entsteht nothwendig daraus bei der Masse der Leute, die doch gern der neuen
Bildung theilhaftig sein wollen, und die nicht fest auf ihren Füßen stehn, eine
große Verwirrung. Was ist eigentlich schön und was häßlich? was gut und
was böse? was ist ideal und was nicht? ja: was ist wirklich?

Dies war die Stimmung, in welcher die Erben der Romantik, die Jung¬
deutschen auftraten. Entweder drückten sie Verzweiflung aus über diese Zeit,
in der keiner wisse, wie er empfinden, wie er denken, wie er sich benehmen
solle; oder sie zeigten ein possenhaftes Behagen an diesem „jetoller je besser".
Die Unwahrheit der Romantik empfanden sie tief; ja sie schlössen sich den neuen
Freiheitsbestrebungen an — die an sich mit dieser Schule des Weltschmerzes
und der Zerrissenheit gar nichts gemein hatte?» — aber sie gaben denselben
eine subjective, dämmerhafte — kurz, eine romantische Färbung.

Auf die Länge kann ein gesundes Volk eine solche Gespenster- und Masken-
wirthschaft nicht ertragen. Schon seit zwanzig Jahren hat sich auch in der
Literatur eine sehr bedeutende Reaction dagegen erhoben, die jetzt entschieden
siegreich ist. — Beiläufig, man halte sich nicht an die Personen, oder die
Schulen und Parteien, die Reaction geschieht auch innerlich. — Der lauteste
von den Wortführern des jungen Deutschland war Gustow; um nun zu
sehn, wie auch in ihm die Fühlfäden einen andern Halt gefunden haben, ver¬
gleiche man die „Ritter vom Geist" mit dem „Zauberer von Rom" — nicht
in Bezug auf das Talent, das sich nicht wesentlich geändert hat, sondern in
Bezug auf den Stoff und die Tendenz. — Die „Ritter vom Geist" sind noch
so jungdeutsch als möglich, d. h. sie schilderten eine Reihe von „Idealisten",
von Referendarien u. s. w., die zwar den Mund sehr voll nehmen über das,
was alles anders werden müßte, die aber im Besondern nicht die entfernteste
Idee von dem hatten, was sie eigentlich wollten. — Der neue Roman dagegen
bemüht sich, auf Grundlage ziemlich umfassender Studien die katholische Kirche
zu schildern, wie sie im 19. Jahrhundert geworden ist, und welchen Einfluß
sie auf verschiedene Stände und Charaktere ausübt. Wir sind nicht gemeint,
den Vergleich weiter auszudehnen, aber in dieser einen Beziehung ist der
„Zauberer von Rom" mit Auerbachs Dorfgeschichten verwandt: er ist über¬
wiegend realistisch, er schildert Zustände, die Gutzkow sich nicht erträumt, son¬
dern die er durch unmittelbare Anschauung und durch Studien zu erforschen
bemüht gewesen ist.

Auerbach war im Kreise der „gebildeten Dichter" — allenfalls Immermann
ausgenommen — der erste, der diesen Ton anschlug; er fand im Publicum
eine sehr große Anerkennung, und eben deshalb im Kreise derer, die in der
alten bequemen Weise sortzudichten wünschten, große Anfechtungen. Wenig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/496>, abgerufen am 15.01.2025.