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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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hat es für uns aufgehört classisch zu sein: unsere Freude anMrgil, Horaz,
Ovid, Terenz u. s. w. ist nur noch die Freude der Bildung; wir würdigen
sie in dieser Beziehung vielleicht besser als die Leser früherer Jahrhunderte,
denen sie als classisch galten, aber wir stehn ihnen gegenüber nicht mehr wie
vor einem Geheimniß, wir glauben nicht mehr an sie. Homer dagegen ist
uns uoch ebenso classisch als den Zeitgenossen Alexanders, denn er ist das
Erzeugnis; einer ungebrochnen Bildung, d. h. einer Bildung, in der man, um
Ideale zu schaffen, nur in die Realität greifen durfte.

Gebrochene Bildungsperioden dagegen, d. h. Perioden, in denen man
die Gestalten, Bilder, Thaten, Empfindungen, Gedanken u. s. w., denen man
zu begegnen wünscht, um erhoben zu werden, nicht in der Wirklichkeit findet
oder nicht zu finden weiß, werden dem einen oder dem andern jener Begriffe
das Uebergewicht geben.

Schon in unserer "classischen Zeit" merken wir den Widerspruch zwischen
dem Ideal und dem Leben. Um schön zu empfinden, bemüht man sich,
griechisch, d. h. undeutsch zu empfinden. Die deutsche Empfindung brach dann
wol mächtig durch -- wie z. B. in Goethes Iphigenie; aber das Costüm
deckte den Inhalt nicht ganz; man übersetzte die deutsche, aber freilich durch
Bildung gewonnene Empfindung ins Griechische, um sie dann wieder ins
Deutsche zurückzuübersetzen. So groß die schöpferische Kraft jener Dichter
war, so merkt man doch hin und wieder die Uebersetzung. -- Schlimmer
wurde es in der Zeit der Romantiker. -- Denn bei Goethe und Schiller war
es mit dem Gegensatz gegen die Zeit nicht so gefährlich: er war mehr ein¬
gebildet als wirklich. Von vielem Unschönen abgestoßen, das sich in der da¬
maligen Literatur regte, das aber in keiner Literatur fehlt, lästerten sie das
Zeitalter, wenn sie predigten, in einer ganz unerhörten Weise; wenn man,
z. B. Schillers Zeitgenossen ans seinen Briefen an den Herzog von Augusten¬
burg kennen lernen wollte, so würde man von ihnen ein ganz schiefes Bild
erhalten. Ehe diese Briefe durchdrangen, ehe "das Reich der Schatten", der
"Spaziergang"; ehe Iphigenie und Tasso durchdrangen, war freilich einige Zeit
nöthig; denn alle jene Dichtungen waren für die Bildung berechnet, und man
muß sich erst allmälig daran gewöhnen, zu abstrahiren von der Atmosphäre, in
der man athmet; jetzt sind wir gebildet genug, zu abstrahiren, und damit die
Schönheit jener Dichtungen zu begreifen. Zugleich aber erkennen wir, daß
Werther, Götz, Wallenstein u. s. w., die eine solche Abstraction nicht ver¬
langten, und die in Folge dessen augenblicklich vollständig verstanden und ge¬
würdigt wurden, darum keineswegs schlechter sind; ja daß sie am Ende noch
die Pandora, die Braut von Messina und andere für die "Gebildeten" be¬
stimmte Dichtungen überleben werden.

Wie gesagt, der Gegensatz war nicht so schlimm. Unsere Dichter wußten


hat es für uns aufgehört classisch zu sein: unsere Freude anMrgil, Horaz,
Ovid, Terenz u. s. w. ist nur noch die Freude der Bildung; wir würdigen
sie in dieser Beziehung vielleicht besser als die Leser früherer Jahrhunderte,
denen sie als classisch galten, aber wir stehn ihnen gegenüber nicht mehr wie
vor einem Geheimniß, wir glauben nicht mehr an sie. Homer dagegen ist
uns uoch ebenso classisch als den Zeitgenossen Alexanders, denn er ist das
Erzeugnis; einer ungebrochnen Bildung, d. h. einer Bildung, in der man, um
Ideale zu schaffen, nur in die Realität greifen durfte.

Gebrochene Bildungsperioden dagegen, d. h. Perioden, in denen man
die Gestalten, Bilder, Thaten, Empfindungen, Gedanken u. s. w., denen man
zu begegnen wünscht, um erhoben zu werden, nicht in der Wirklichkeit findet
oder nicht zu finden weiß, werden dem einen oder dem andern jener Begriffe
das Uebergewicht geben.

Schon in unserer „classischen Zeit" merken wir den Widerspruch zwischen
dem Ideal und dem Leben. Um schön zu empfinden, bemüht man sich,
griechisch, d. h. undeutsch zu empfinden. Die deutsche Empfindung brach dann
wol mächtig durch — wie z. B. in Goethes Iphigenie; aber das Costüm
deckte den Inhalt nicht ganz; man übersetzte die deutsche, aber freilich durch
Bildung gewonnene Empfindung ins Griechische, um sie dann wieder ins
Deutsche zurückzuübersetzen. So groß die schöpferische Kraft jener Dichter
war, so merkt man doch hin und wieder die Uebersetzung. — Schlimmer
wurde es in der Zeit der Romantiker. — Denn bei Goethe und Schiller war
es mit dem Gegensatz gegen die Zeit nicht so gefährlich: er war mehr ein¬
gebildet als wirklich. Von vielem Unschönen abgestoßen, das sich in der da¬
maligen Literatur regte, das aber in keiner Literatur fehlt, lästerten sie das
Zeitalter, wenn sie predigten, in einer ganz unerhörten Weise; wenn man,
z. B. Schillers Zeitgenossen ans seinen Briefen an den Herzog von Augusten¬
burg kennen lernen wollte, so würde man von ihnen ein ganz schiefes Bild
erhalten. Ehe diese Briefe durchdrangen, ehe „das Reich der Schatten", der
„Spaziergang"; ehe Iphigenie und Tasso durchdrangen, war freilich einige Zeit
nöthig; denn alle jene Dichtungen waren für die Bildung berechnet, und man
muß sich erst allmälig daran gewöhnen, zu abstrahiren von der Atmosphäre, in
der man athmet; jetzt sind wir gebildet genug, zu abstrahiren, und damit die
Schönheit jener Dichtungen zu begreifen. Zugleich aber erkennen wir, daß
Werther, Götz, Wallenstein u. s. w., die eine solche Abstraction nicht ver¬
langten, und die in Folge dessen augenblicklich vollständig verstanden und ge¬
würdigt wurden, darum keineswegs schlechter sind; ja daß sie am Ende noch
die Pandora, die Braut von Messina und andere für die „Gebildeten" be¬
stimmte Dichtungen überleben werden.

Wie gesagt, der Gegensatz war nicht so schlimm. Unsere Dichter wußten


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[0494] hat es für uns aufgehört classisch zu sein: unsere Freude anMrgil, Horaz, Ovid, Terenz u. s. w. ist nur noch die Freude der Bildung; wir würdigen sie in dieser Beziehung vielleicht besser als die Leser früherer Jahrhunderte, denen sie als classisch galten, aber wir stehn ihnen gegenüber nicht mehr wie vor einem Geheimniß, wir glauben nicht mehr an sie. Homer dagegen ist uns uoch ebenso classisch als den Zeitgenossen Alexanders, denn er ist das Erzeugnis; einer ungebrochnen Bildung, d. h. einer Bildung, in der man, um Ideale zu schaffen, nur in die Realität greifen durfte. Gebrochene Bildungsperioden dagegen, d. h. Perioden, in denen man die Gestalten, Bilder, Thaten, Empfindungen, Gedanken u. s. w., denen man zu begegnen wünscht, um erhoben zu werden, nicht in der Wirklichkeit findet oder nicht zu finden weiß, werden dem einen oder dem andern jener Begriffe das Uebergewicht geben. Schon in unserer „classischen Zeit" merken wir den Widerspruch zwischen dem Ideal und dem Leben. Um schön zu empfinden, bemüht man sich, griechisch, d. h. undeutsch zu empfinden. Die deutsche Empfindung brach dann wol mächtig durch — wie z. B. in Goethes Iphigenie; aber das Costüm deckte den Inhalt nicht ganz; man übersetzte die deutsche, aber freilich durch Bildung gewonnene Empfindung ins Griechische, um sie dann wieder ins Deutsche zurückzuübersetzen. So groß die schöpferische Kraft jener Dichter war, so merkt man doch hin und wieder die Uebersetzung. — Schlimmer wurde es in der Zeit der Romantiker. — Denn bei Goethe und Schiller war es mit dem Gegensatz gegen die Zeit nicht so gefährlich: er war mehr ein¬ gebildet als wirklich. Von vielem Unschönen abgestoßen, das sich in der da¬ maligen Literatur regte, das aber in keiner Literatur fehlt, lästerten sie das Zeitalter, wenn sie predigten, in einer ganz unerhörten Weise; wenn man, z. B. Schillers Zeitgenossen ans seinen Briefen an den Herzog von Augusten¬ burg kennen lernen wollte, so würde man von ihnen ein ganz schiefes Bild erhalten. Ehe diese Briefe durchdrangen, ehe „das Reich der Schatten", der „Spaziergang"; ehe Iphigenie und Tasso durchdrangen, war freilich einige Zeit nöthig; denn alle jene Dichtungen waren für die Bildung berechnet, und man muß sich erst allmälig daran gewöhnen, zu abstrahiren von der Atmosphäre, in der man athmet; jetzt sind wir gebildet genug, zu abstrahiren, und damit die Schönheit jener Dichtungen zu begreifen. Zugleich aber erkennen wir, daß Werther, Götz, Wallenstein u. s. w., die eine solche Abstraction nicht ver¬ langten, und die in Folge dessen augenblicklich vollständig verstanden und ge¬ würdigt wurden, darum keineswegs schlechter sind; ja daß sie am Ende noch die Pandora, die Braut von Messina und andere für die „Gebildeten" be¬ stimmte Dichtungen überleben werden. Wie gesagt, der Gegensatz war nicht so schlimm. Unsere Dichter wußten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/494>, abgerufen am 15.01.2025.