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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Alliirten bezeichnete, so war ihm eine selbständige Stellung möglich, die es
in den Stand setzte. Forderungen Frankreichs zu verweigern. Aber eine solche
Politik erheischte freilich, daß man sich über legitimistische Sympathien und
Vorurtheile hinwegsetzte und nur nach dem Interesse des Staates handelte.
Dazu aber war man in Berlin nicht geneigt. Das liberale Ministerium, das
sich in Deutschland isolirt. Oestreich wie England entfremdet fühlte, suchte viel¬
mehr einen Stützpunkt in Rußland, das vornehmlich dahin gewirkt, Preußen von
einer entschiednen Action im vorigen Sommer zurückzuhalten. Fürst Gortschakofs,
dem es sehr willkommen war Preußen auf diese Weise von England entfernt zu hal¬
ten, kam bereitwillig entgegen. Der Besuch des Kaisers Alexander in Breslau ward
verabredet, um den Mittelstaaten, bei denen die Ansichten des Petersburger Cabinets
doch immer ein gewisses Gewicht behielten, zu zeigen, daß dasselbe mit dem
Berliner einverstanden sei. Von wie geringem praktischen Werthe diese De¬
monstration war, sollte sich bald genug zeigen. Während die unfruchtbaren
Verhandlungen über den Züricher Frieden sich von Woche zu Woche hinzogen,
waren die Dinge in Italien ihren Weg gegangen. Die vertriebenen Fürsten
waren nicht zurückgekehrt, vielmehr die Annexion ihrer Länder an Sardinien
unter Begünstigung von England thatsächlich vollzogen. Napoleon sah mit
seinem richtigen Tacte, daß dergleichen Dinge nicht ungeschehen zu machen
seien, und während noch über den Congreß hin- und hergeschrieben ward, be¬
reitete er bereits eine neue Wendung vor. Um Weihnacht erschien die zweite
kaiserliche Flugschrift rü der italienischen Frage "der Papst und der Congreß".
Graf Walewski trat zurück, in Turin ergriff Graf Cavour wieder das Nuder.
der englisch-französische Handelsvertrag kam zu Stande. Nizza und Savoyen
wurden abgetreten. Wir wollen die Geschichte der bewegten ersten Monate
dieses Jahres hier nicht erzählen, sie ist frisch in aller Erinnerung, wir wollen
nur fragen: wie stellte sich die Politik Preußens zu diesen folgenschweren Er¬
eignissen? und müssen sagen: sie verharrte in ihrer Unthätigkeit und Unfrucht¬
barkeit. Es wurden zwar Vorsätze gefaßt und Ansätze genommen, aber
gethan wurde nicht das Mindeste. Die Motivirung des Anspruchs auf Sa¬
voyen und Nizza in Napoleons Thronrede, namentlich die verschleierte Forde¬
rung der natürlichen Grenzen mußte der Regierung, welche der Wächter des
Rheins sein soll, die ernstesten Besorgnisse einflößen. Es gab einer solchen
drohenden Thatsache gegenüber nur zwei Wege des Verhaltens : entweder ihre
Ausführung mußte thatkräftig verhindert werden oder man mußte, wenn man
dies für unmöglich hielt, sie Paralysiren, indem man sich durch ein Gegcnzu-
geständniß schadlos zu halten suchte. Beide Wege waren möglich. Vielleicht
wird man geneigt sein, dies von dem ersten zu verneinen; und allerdings war
der größte Fehler schon begangen, indem man Sardiniens Jsolirung zuließ,
durch die Cavour außer Stand gesetzt war, die kategorischen Forderungen Frank-


Alliirten bezeichnete, so war ihm eine selbständige Stellung möglich, die es
in den Stand setzte. Forderungen Frankreichs zu verweigern. Aber eine solche
Politik erheischte freilich, daß man sich über legitimistische Sympathien und
Vorurtheile hinwegsetzte und nur nach dem Interesse des Staates handelte.
Dazu aber war man in Berlin nicht geneigt. Das liberale Ministerium, das
sich in Deutschland isolirt. Oestreich wie England entfremdet fühlte, suchte viel¬
mehr einen Stützpunkt in Rußland, das vornehmlich dahin gewirkt, Preußen von
einer entschiednen Action im vorigen Sommer zurückzuhalten. Fürst Gortschakofs,
dem es sehr willkommen war Preußen auf diese Weise von England entfernt zu hal¬
ten, kam bereitwillig entgegen. Der Besuch des Kaisers Alexander in Breslau ward
verabredet, um den Mittelstaaten, bei denen die Ansichten des Petersburger Cabinets
doch immer ein gewisses Gewicht behielten, zu zeigen, daß dasselbe mit dem
Berliner einverstanden sei. Von wie geringem praktischen Werthe diese De¬
monstration war, sollte sich bald genug zeigen. Während die unfruchtbaren
Verhandlungen über den Züricher Frieden sich von Woche zu Woche hinzogen,
waren die Dinge in Italien ihren Weg gegangen. Die vertriebenen Fürsten
waren nicht zurückgekehrt, vielmehr die Annexion ihrer Länder an Sardinien
unter Begünstigung von England thatsächlich vollzogen. Napoleon sah mit
seinem richtigen Tacte, daß dergleichen Dinge nicht ungeschehen zu machen
seien, und während noch über den Congreß hin- und hergeschrieben ward, be¬
reitete er bereits eine neue Wendung vor. Um Weihnacht erschien die zweite
kaiserliche Flugschrift rü der italienischen Frage „der Papst und der Congreß".
Graf Walewski trat zurück, in Turin ergriff Graf Cavour wieder das Nuder.
der englisch-französische Handelsvertrag kam zu Stande. Nizza und Savoyen
wurden abgetreten. Wir wollen die Geschichte der bewegten ersten Monate
dieses Jahres hier nicht erzählen, sie ist frisch in aller Erinnerung, wir wollen
nur fragen: wie stellte sich die Politik Preußens zu diesen folgenschweren Er¬
eignissen? und müssen sagen: sie verharrte in ihrer Unthätigkeit und Unfrucht¬
barkeit. Es wurden zwar Vorsätze gefaßt und Ansätze genommen, aber
gethan wurde nicht das Mindeste. Die Motivirung des Anspruchs auf Sa¬
voyen und Nizza in Napoleons Thronrede, namentlich die verschleierte Forde¬
rung der natürlichen Grenzen mußte der Regierung, welche der Wächter des
Rheins sein soll, die ernstesten Besorgnisse einflößen. Es gab einer solchen
drohenden Thatsache gegenüber nur zwei Wege des Verhaltens : entweder ihre
Ausführung mußte thatkräftig verhindert werden oder man mußte, wenn man
dies für unmöglich hielt, sie Paralysiren, indem man sich durch ein Gegcnzu-
geständniß schadlos zu halten suchte. Beide Wege waren möglich. Vielleicht
wird man geneigt sein, dies von dem ersten zu verneinen; und allerdings war
der größte Fehler schon begangen, indem man Sardiniens Jsolirung zuließ,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/456>, abgerufen am 15.01.2025.