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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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litische Neuschöpfung, welche im Verlauf der Jahre soweit erstarken konnte,
daß sie der britischen Flotte die Herrschaft in der Osthälfte des Mittelmeers
und im Schwarzen streitig zu machen vermochte, und noch weniger gern na¬
türlich eine Ausbreitung der russischen Macht über die Küsten dieser Gewässer
und deren Hinterkante. Daher sein Auftreten nicht blos gegen die Russen,
sondern auch gegen die Griechen, die nächsten Erbberechtigten bei einem Ver¬
scheiden der Türkei.

Ganz anders liegen die Dinge für Frankreich. Frankreichs Interesse hat
mit der Erhaltung der Türtcnherrschaft in Europa nichts zu thun, und wäh¬
rend es in Italien gegen Oestreichs Weitergreifen kämpfte, scheint es sich den
Bestrebungen Rußlands auf der illyrischen Halbinsel nur deshalb nicht offen
beizugesellen, weil es vorläufig noch nicht mit England brechen will. Seine
Tendenz ist, am Mittelmeer immer mehr Fuß zu fassen, so wie bisher im
Westen von Aegypten, der Straße nach Indien, auch im Norden. Es hat
sich Freunde in den Schwarzen Bergen an der Adria wie in den Maroniten
des Libanon erworben, wo seine Fahne, wie uns soeben berichtet wurde, statt
der stipulirten sechs Monate, zwei Jahre und sehr wahrscheinlich länger, viel¬
leicht so lange wie einst in Ancona und jetzt in Rom wehen wird. Es ist
in Alexandrien und Kairo von Mehemed Alis Zeit her besser angesehen als
England. Es hat einen Borposten in Tunis. Es gilt allen Katholiken des
Orients als ihre oberste Schutzmacht. Es kann, wenn es sich hütet, durch
fernern Eigennutz gegen den Nationalwillen der Italiener zu verstoßen, ver¬
mittelst seiner neu gewonnenen Stellung in den Alpen und seiner Garnison
in Rom bei einem etwaigen Zusammenstoß der Interessen in nächster Zukunft
den Engländern die Freundschaft Italiens streitig machen. Nicht undenkbar
ist, daß Kaiser Napoleon nach gebührendem Studium der griechischen Frage
den Versuch unternimmt, den Russen die Freundschaft der fünf Millionen in
Hellas und der Türkei lebenden Griechen abzugewinnen, seine Rolle als Be¬
freier der Nationalitäten auch auf diese rührige und intelligente Rasse auszu¬
dehnen, und ein starkes Königreich Hellas zu schaffen, das ihm bei Ver¬
folgung weiterer Pläne zu Diensten stünde. Der Freund Italiens und
Griechenlands, der Inhaber von politischen Commanditen in Montenegro,
Syrien, Aegypten und Tunis, der Schutzherr der Römisch-Katholischen im
Orient dürste es dann recht wol wagen, vor England die Maske abzuwerfen
und, Rußland mit der Osthälfte der europäischen Türkei und dem Schwarzen
Meer abkaufend, sich des arabisch redenden Theils des Reichs der Pforte
vom Nil bis an den Euphrat und den Taurus zu bemächtigen.

Preußen, die fünfte Großmacht, hat, seit die Pforte in Marasmus ver¬
sallen ist. kein directes Interesse an der orientalischen Frage. Sein Handel
wird von ihr so gut wie nicht berührt. Seine Stellung in Jerusalem ist


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litische Neuschöpfung, welche im Verlauf der Jahre soweit erstarken konnte,
daß sie der britischen Flotte die Herrschaft in der Osthälfte des Mittelmeers
und im Schwarzen streitig zu machen vermochte, und noch weniger gern na¬
türlich eine Ausbreitung der russischen Macht über die Küsten dieser Gewässer
und deren Hinterkante. Daher sein Auftreten nicht blos gegen die Russen,
sondern auch gegen die Griechen, die nächsten Erbberechtigten bei einem Ver¬
scheiden der Türkei.

Ganz anders liegen die Dinge für Frankreich. Frankreichs Interesse hat
mit der Erhaltung der Türtcnherrschaft in Europa nichts zu thun, und wäh¬
rend es in Italien gegen Oestreichs Weitergreifen kämpfte, scheint es sich den
Bestrebungen Rußlands auf der illyrischen Halbinsel nur deshalb nicht offen
beizugesellen, weil es vorläufig noch nicht mit England brechen will. Seine
Tendenz ist, am Mittelmeer immer mehr Fuß zu fassen, so wie bisher im
Westen von Aegypten, der Straße nach Indien, auch im Norden. Es hat
sich Freunde in den Schwarzen Bergen an der Adria wie in den Maroniten
des Libanon erworben, wo seine Fahne, wie uns soeben berichtet wurde, statt
der stipulirten sechs Monate, zwei Jahre und sehr wahrscheinlich länger, viel¬
leicht so lange wie einst in Ancona und jetzt in Rom wehen wird. Es ist
in Alexandrien und Kairo von Mehemed Alis Zeit her besser angesehen als
England. Es hat einen Borposten in Tunis. Es gilt allen Katholiken des
Orients als ihre oberste Schutzmacht. Es kann, wenn es sich hütet, durch
fernern Eigennutz gegen den Nationalwillen der Italiener zu verstoßen, ver¬
mittelst seiner neu gewonnenen Stellung in den Alpen und seiner Garnison
in Rom bei einem etwaigen Zusammenstoß der Interessen in nächster Zukunft
den Engländern die Freundschaft Italiens streitig machen. Nicht undenkbar
ist, daß Kaiser Napoleon nach gebührendem Studium der griechischen Frage
den Versuch unternimmt, den Russen die Freundschaft der fünf Millionen in
Hellas und der Türkei lebenden Griechen abzugewinnen, seine Rolle als Be¬
freier der Nationalitäten auch auf diese rührige und intelligente Rasse auszu¬
dehnen, und ein starkes Königreich Hellas zu schaffen, das ihm bei Ver¬
folgung weiterer Pläne zu Diensten stünde. Der Freund Italiens und
Griechenlands, der Inhaber von politischen Commanditen in Montenegro,
Syrien, Aegypten und Tunis, der Schutzherr der Römisch-Katholischen im
Orient dürste es dann recht wol wagen, vor England die Maske abzuwerfen
und, Rußland mit der Osthälfte der europäischen Türkei und dem Schwarzen
Meer abkaufend, sich des arabisch redenden Theils des Reichs der Pforte
vom Nil bis an den Euphrat und den Taurus zu bemächtigen.

Preußen, die fünfte Großmacht, hat, seit die Pforte in Marasmus ver¬
sallen ist. kein directes Interesse an der orientalischen Frage. Sein Handel
wird von ihr so gut wie nicht berührt. Seine Stellung in Jerusalem ist


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[0295] litische Neuschöpfung, welche im Verlauf der Jahre soweit erstarken konnte, daß sie der britischen Flotte die Herrschaft in der Osthälfte des Mittelmeers und im Schwarzen streitig zu machen vermochte, und noch weniger gern na¬ türlich eine Ausbreitung der russischen Macht über die Küsten dieser Gewässer und deren Hinterkante. Daher sein Auftreten nicht blos gegen die Russen, sondern auch gegen die Griechen, die nächsten Erbberechtigten bei einem Ver¬ scheiden der Türkei. Ganz anders liegen die Dinge für Frankreich. Frankreichs Interesse hat mit der Erhaltung der Türtcnherrschaft in Europa nichts zu thun, und wäh¬ rend es in Italien gegen Oestreichs Weitergreifen kämpfte, scheint es sich den Bestrebungen Rußlands auf der illyrischen Halbinsel nur deshalb nicht offen beizugesellen, weil es vorläufig noch nicht mit England brechen will. Seine Tendenz ist, am Mittelmeer immer mehr Fuß zu fassen, so wie bisher im Westen von Aegypten, der Straße nach Indien, auch im Norden. Es hat sich Freunde in den Schwarzen Bergen an der Adria wie in den Maroniten des Libanon erworben, wo seine Fahne, wie uns soeben berichtet wurde, statt der stipulirten sechs Monate, zwei Jahre und sehr wahrscheinlich länger, viel¬ leicht so lange wie einst in Ancona und jetzt in Rom wehen wird. Es ist in Alexandrien und Kairo von Mehemed Alis Zeit her besser angesehen als England. Es hat einen Borposten in Tunis. Es gilt allen Katholiken des Orients als ihre oberste Schutzmacht. Es kann, wenn es sich hütet, durch fernern Eigennutz gegen den Nationalwillen der Italiener zu verstoßen, ver¬ mittelst seiner neu gewonnenen Stellung in den Alpen und seiner Garnison in Rom bei einem etwaigen Zusammenstoß der Interessen in nächster Zukunft den Engländern die Freundschaft Italiens streitig machen. Nicht undenkbar ist, daß Kaiser Napoleon nach gebührendem Studium der griechischen Frage den Versuch unternimmt, den Russen die Freundschaft der fünf Millionen in Hellas und der Türkei lebenden Griechen abzugewinnen, seine Rolle als Be¬ freier der Nationalitäten auch auf diese rührige und intelligente Rasse auszu¬ dehnen, und ein starkes Königreich Hellas zu schaffen, das ihm bei Ver¬ folgung weiterer Pläne zu Diensten stünde. Der Freund Italiens und Griechenlands, der Inhaber von politischen Commanditen in Montenegro, Syrien, Aegypten und Tunis, der Schutzherr der Römisch-Katholischen im Orient dürste es dann recht wol wagen, vor England die Maske abzuwerfen und, Rußland mit der Osthälfte der europäischen Türkei und dem Schwarzen Meer abkaufend, sich des arabisch redenden Theils des Reichs der Pforte vom Nil bis an den Euphrat und den Taurus zu bemächtigen. Preußen, die fünfte Großmacht, hat, seit die Pforte in Marasmus ver¬ sallen ist. kein directes Interesse an der orientalischen Frage. Sein Handel wird von ihr so gut wie nicht berührt. Seine Stellung in Jerusalem ist 36*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/295>, abgerufen am 15.01.2025.