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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Menschenschlag im Amte Werdensels zu berichten. Es ist eigenthümlich, daß
grade an diesen beiden Enden des bayerischen Gebirgs die Zeichen einer ge¬
wissen Verwelktheit sich kundgeben, während in dem weiten Alpenlande zwi¬
schen diesen Ecken der Mensch noch ganz frisch und grün ist. Aber es erklärt
sich, wenn man sich erinnert, daß diese Gebiete einst unter dem Krummstab
standen und daß die Bewohner derselben wie der ganze Typus, die dunkle
Hautfarbe, das schwarze Haar und Auge und der kurze Wuchs zeigen, sehr
wahrscheinlich romanischer Abstammung sind. Namentlich die Verchtesgadner
sind ein verkommnes Völkchen. Mit Bedauern betrachtet man diese dürftigen
Schnitzer und Bergleute, die vielen kropfigen Männer, die furchtbar häßlichen
Weiber, die kümmerlich fahlen Jungen, die gelben abgestandenen Mädchen.
Mit Wehmuth blickt man auf ihre Armuth, ihren Hang zur Frömmelei und
auf das gedrückte schlaffe Wesen der Leute, die den Forderungen des Tages wie
einem Verhängnisse nur deu alten Glauben entgegenzusetzen wissen. Mit
Niedergeschlagenheit und Mißbehagen vergleicht der Wandrer die Genüsse, die
das Land dem Auge bietet, mit denen, welche seine Wirthshäuser ihm ge¬
währen.

Während in ganz Oberbayern auf 63. im nördlichen Theile des Kreises
erst auf 123 Conscribirte ein Kropfiger kommt, findet sich im Bezirk Berchtes-
gaden schon einer auf 14; und während im ganzen Kreise auf 1466, in den
nördlichen Districten auf 1986 und sonst im Gebirge auf 652 Einwohner ein
Blödsinniger (volksthümlich Fex) trifft, zählt man im Bcrchtesgadenschen einen
solchen Unglücklichen ans 152 Seelen.

Volkskrankheiten außer Mops und Cretinismus sind in Altbayern das
Wechselfieber und der Typhus, und zwar kommen die letzteren vorzüglich im
Flachlande vor. Die Bewohner des Dachauer und Erdinger Mooses (im Osten
und Westen der Jsar) und der benachbarten Dorfschaften, die nur wenig über
dem Niveau der Moosgründe liegen, sowie die der flachen Landstriche, die
an das Donaumoos grenzen, werden jedes Frühjahr vom Wechselfieber heim¬
gesucht. Als kleinere Entwicklungsheerde dieser Krankheit bezeichnet Wolfstci-
ner in der "Bavaria" die Filze und Moore gegen das Hochland hin, auch
Seen, deren Ufer flach und von denen ein Theil ihres frühern Spiegels ver¬
sumpft ist. So glaubt der Filzler bei Weilheim die Gesundheit seiner Natur
in.Zweifel ziehn zu. müssen, wenn er aufwächst, ohne einmal vom "Frörcr"
geschüttelt worden zu sein. Diese Wechselfieber sind jetzt nur in seltnen Fäl¬
len gefährlich, während sie noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts in und
bei Ingolstadt häufig nach wenigen Anfällen den Tod zur Folge hatten. Der
Typhus haftet namentlich in dem sonst ziemlich gut gelegenen München wie
eine endemische Krankheit. Es ist wahrscheinlich seit Jahrzehnten kein Tag
vergangen, an dem hier nicht ein Typhuskranker lag, und kein Monat, in dem


Menschenschlag im Amte Werdensels zu berichten. Es ist eigenthümlich, daß
grade an diesen beiden Enden des bayerischen Gebirgs die Zeichen einer ge¬
wissen Verwelktheit sich kundgeben, während in dem weiten Alpenlande zwi¬
schen diesen Ecken der Mensch noch ganz frisch und grün ist. Aber es erklärt
sich, wenn man sich erinnert, daß diese Gebiete einst unter dem Krummstab
standen und daß die Bewohner derselben wie der ganze Typus, die dunkle
Hautfarbe, das schwarze Haar und Auge und der kurze Wuchs zeigen, sehr
wahrscheinlich romanischer Abstammung sind. Namentlich die Verchtesgadner
sind ein verkommnes Völkchen. Mit Bedauern betrachtet man diese dürftigen
Schnitzer und Bergleute, die vielen kropfigen Männer, die furchtbar häßlichen
Weiber, die kümmerlich fahlen Jungen, die gelben abgestandenen Mädchen.
Mit Wehmuth blickt man auf ihre Armuth, ihren Hang zur Frömmelei und
auf das gedrückte schlaffe Wesen der Leute, die den Forderungen des Tages wie
einem Verhängnisse nur deu alten Glauben entgegenzusetzen wissen. Mit
Niedergeschlagenheit und Mißbehagen vergleicht der Wandrer die Genüsse, die
das Land dem Auge bietet, mit denen, welche seine Wirthshäuser ihm ge¬
währen.

Während in ganz Oberbayern auf 63. im nördlichen Theile des Kreises
erst auf 123 Conscribirte ein Kropfiger kommt, findet sich im Bezirk Berchtes-
gaden schon einer auf 14; und während im ganzen Kreise auf 1466, in den
nördlichen Districten auf 1986 und sonst im Gebirge auf 652 Einwohner ein
Blödsinniger (volksthümlich Fex) trifft, zählt man im Bcrchtesgadenschen einen
solchen Unglücklichen ans 152 Seelen.

Volkskrankheiten außer Mops und Cretinismus sind in Altbayern das
Wechselfieber und der Typhus, und zwar kommen die letzteren vorzüglich im
Flachlande vor. Die Bewohner des Dachauer und Erdinger Mooses (im Osten
und Westen der Jsar) und der benachbarten Dorfschaften, die nur wenig über
dem Niveau der Moosgründe liegen, sowie die der flachen Landstriche, die
an das Donaumoos grenzen, werden jedes Frühjahr vom Wechselfieber heim¬
gesucht. Als kleinere Entwicklungsheerde dieser Krankheit bezeichnet Wolfstci-
ner in der „Bavaria" die Filze und Moore gegen das Hochland hin, auch
Seen, deren Ufer flach und von denen ein Theil ihres frühern Spiegels ver¬
sumpft ist. So glaubt der Filzler bei Weilheim die Gesundheit seiner Natur
in.Zweifel ziehn zu. müssen, wenn er aufwächst, ohne einmal vom „Frörcr"
geschüttelt worden zu sein. Diese Wechselfieber sind jetzt nur in seltnen Fäl¬
len gefährlich, während sie noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts in und
bei Ingolstadt häufig nach wenigen Anfällen den Tod zur Folge hatten. Der
Typhus haftet namentlich in dem sonst ziemlich gut gelegenen München wie
eine endemische Krankheit. Es ist wahrscheinlich seit Jahrzehnten kein Tag
vergangen, an dem hier nicht ein Typhuskranker lag, und kein Monat, in dem


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[0233] Menschenschlag im Amte Werdensels zu berichten. Es ist eigenthümlich, daß grade an diesen beiden Enden des bayerischen Gebirgs die Zeichen einer ge¬ wissen Verwelktheit sich kundgeben, während in dem weiten Alpenlande zwi¬ schen diesen Ecken der Mensch noch ganz frisch und grün ist. Aber es erklärt sich, wenn man sich erinnert, daß diese Gebiete einst unter dem Krummstab standen und daß die Bewohner derselben wie der ganze Typus, die dunkle Hautfarbe, das schwarze Haar und Auge und der kurze Wuchs zeigen, sehr wahrscheinlich romanischer Abstammung sind. Namentlich die Verchtesgadner sind ein verkommnes Völkchen. Mit Bedauern betrachtet man diese dürftigen Schnitzer und Bergleute, die vielen kropfigen Männer, die furchtbar häßlichen Weiber, die kümmerlich fahlen Jungen, die gelben abgestandenen Mädchen. Mit Wehmuth blickt man auf ihre Armuth, ihren Hang zur Frömmelei und auf das gedrückte schlaffe Wesen der Leute, die den Forderungen des Tages wie einem Verhängnisse nur deu alten Glauben entgegenzusetzen wissen. Mit Niedergeschlagenheit und Mißbehagen vergleicht der Wandrer die Genüsse, die das Land dem Auge bietet, mit denen, welche seine Wirthshäuser ihm ge¬ währen. Während in ganz Oberbayern auf 63. im nördlichen Theile des Kreises erst auf 123 Conscribirte ein Kropfiger kommt, findet sich im Bezirk Berchtes- gaden schon einer auf 14; und während im ganzen Kreise auf 1466, in den nördlichen Districten auf 1986 und sonst im Gebirge auf 652 Einwohner ein Blödsinniger (volksthümlich Fex) trifft, zählt man im Bcrchtesgadenschen einen solchen Unglücklichen ans 152 Seelen. Volkskrankheiten außer Mops und Cretinismus sind in Altbayern das Wechselfieber und der Typhus, und zwar kommen die letzteren vorzüglich im Flachlande vor. Die Bewohner des Dachauer und Erdinger Mooses (im Osten und Westen der Jsar) und der benachbarten Dorfschaften, die nur wenig über dem Niveau der Moosgründe liegen, sowie die der flachen Landstriche, die an das Donaumoos grenzen, werden jedes Frühjahr vom Wechselfieber heim¬ gesucht. Als kleinere Entwicklungsheerde dieser Krankheit bezeichnet Wolfstci- ner in der „Bavaria" die Filze und Moore gegen das Hochland hin, auch Seen, deren Ufer flach und von denen ein Theil ihres frühern Spiegels ver¬ sumpft ist. So glaubt der Filzler bei Weilheim die Gesundheit seiner Natur in.Zweifel ziehn zu. müssen, wenn er aufwächst, ohne einmal vom „Frörcr" geschüttelt worden zu sein. Diese Wechselfieber sind jetzt nur in seltnen Fäl¬ len gefährlich, während sie noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts in und bei Ingolstadt häufig nach wenigen Anfällen den Tod zur Folge hatten. Der Typhus haftet namentlich in dem sonst ziemlich gut gelegenen München wie eine endemische Krankheit. Es ist wahrscheinlich seit Jahrzehnten kein Tag vergangen, an dem hier nicht ein Typhuskranker lag, und kein Monat, in dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/233>, abgerufen am 15.01.2025.