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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Anarchie und in weitrer Linie einer Unterwerfung Italiens unter Frankreich
in die Hände; diese dagegen, wenn sie gelingt, macht Italien von Frankreich
unabhängig Sehr richtig bemerkt Cavour, daß man einem organisirten Staat
von zwanzig Millionen Menschen keine Abtretungen mehr zumuthen wird.

Für Frankreich wird Italien der gefährlichste Nebenbuhler, denn es wird
im Lauf von zehn Jahren eine bedeutende Seemacht, welche nicht dulden wird,
daß das mittelländische Meer ein französischer See sei. Aber nicht allein die
natürliche Lage der Dinge bringt diesen Gegensatz hervor, der Kaiser der Fran¬
zosen hat auch alles Mögliche gethan, um in der Seele Victor Emanuels einen
gesunden und gründlichen Haß hervorzurufen. Die Art. wie er ihn seine Ab¬
hängigkeit hat fühlen lassen -- noch heute bei Viterbo und Gaöta -- wird
ihre Früchte tragen, und Cavour wird für die Jmmoralität eines zukünftigen
eclatanten Undanks zur Zeit die angemessene Phrase finden.

Warum läßt Napoleon also das ganze Unternehmen zu? -- Erstens weil
in der That die Verkettung der Ereignisse so mächtig war, daß sie sich zum
Theil seiner Leitung entzog, zweitens weil er auf einen Krieg zwischen Italien
und Oestreich rechnet. In diesem Kriege tritt er, wenn Italien geschlagen ist.
als Vermittler auf und nimmt zur Entschädigung Neapel und Sicilien; oder
wenn Preußen sich einmischt, sucht er mit Hilfe der Italiener die Rheinprovinz
zu erobern, überzeugt, daß die Haltung der Mittelstaaten durch Beihilfe einiger
Ueberraschung einen Rheinbund herbeiführen muß.

Im Interesse der Menschheit liegt, daß Italien der Spielraum einiger
Jahre gegeben wird, um zu zeigen, ob dieser einst so edle Volksstamm fähig
ist, seine alte Stellung in der Cultur wieder einzunehmen. Diese Möglichkeit
geht, so weit Menschenaugen sehn können, für immer verloren, wenn Sar¬
dinien zertrümmert wird.

Im gemeinschaftlichen Interesse Preußens und Englands liegt, Oestreich
vom Kriege zurückzuhalten. Unter dieser Bedingung wird Frankreich jeder
Vorwand genommen, sich in die italienischen Händel einzumischen; denn Pie-
mont seinerseits wird die Oestreicher entschieden nicht angreifen. Gelingt es
dem italienischen Staat einige Jahre hindurch sich zu consolidiren, dann wird
von Seiten Europas die Frage an Frankreich zeitgemäß sein, was es in Rom
zu suchen hat? Bis dahin werden sich auch die östreichischen Verhältnisse auf¬
geklärt haben, und dann wird das natürliche Gleichgewicht Europas, auf die
Uebereinstimmung der Fürsten mit ihren Nationen gegründet, stark genug sein,
das kriegerische Gelüst des Bonapartismus in Schranken zu halten. Wir ge-
hören nicht zu den unbedingten Friedensaposteln, aber die Lage der Dinge
ist heute unzweifelhaft von der Art. daß es heißt: Zeit gewonnen, alles ge¬
wonnen! --




Anarchie und in weitrer Linie einer Unterwerfung Italiens unter Frankreich
in die Hände; diese dagegen, wenn sie gelingt, macht Italien von Frankreich
unabhängig Sehr richtig bemerkt Cavour, daß man einem organisirten Staat
von zwanzig Millionen Menschen keine Abtretungen mehr zumuthen wird.

Für Frankreich wird Italien der gefährlichste Nebenbuhler, denn es wird
im Lauf von zehn Jahren eine bedeutende Seemacht, welche nicht dulden wird,
daß das mittelländische Meer ein französischer See sei. Aber nicht allein die
natürliche Lage der Dinge bringt diesen Gegensatz hervor, der Kaiser der Fran¬
zosen hat auch alles Mögliche gethan, um in der Seele Victor Emanuels einen
gesunden und gründlichen Haß hervorzurufen. Die Art. wie er ihn seine Ab¬
hängigkeit hat fühlen lassen — noch heute bei Viterbo und Gaöta — wird
ihre Früchte tragen, und Cavour wird für die Jmmoralität eines zukünftigen
eclatanten Undanks zur Zeit die angemessene Phrase finden.

Warum läßt Napoleon also das ganze Unternehmen zu? — Erstens weil
in der That die Verkettung der Ereignisse so mächtig war, daß sie sich zum
Theil seiner Leitung entzog, zweitens weil er auf einen Krieg zwischen Italien
und Oestreich rechnet. In diesem Kriege tritt er, wenn Italien geschlagen ist.
als Vermittler auf und nimmt zur Entschädigung Neapel und Sicilien; oder
wenn Preußen sich einmischt, sucht er mit Hilfe der Italiener die Rheinprovinz
zu erobern, überzeugt, daß die Haltung der Mittelstaaten durch Beihilfe einiger
Ueberraschung einen Rheinbund herbeiführen muß.

Im Interesse der Menschheit liegt, daß Italien der Spielraum einiger
Jahre gegeben wird, um zu zeigen, ob dieser einst so edle Volksstamm fähig
ist, seine alte Stellung in der Cultur wieder einzunehmen. Diese Möglichkeit
geht, so weit Menschenaugen sehn können, für immer verloren, wenn Sar¬
dinien zertrümmert wird.

Im gemeinschaftlichen Interesse Preußens und Englands liegt, Oestreich
vom Kriege zurückzuhalten. Unter dieser Bedingung wird Frankreich jeder
Vorwand genommen, sich in die italienischen Händel einzumischen; denn Pie-
mont seinerseits wird die Oestreicher entschieden nicht angreifen. Gelingt es
dem italienischen Staat einige Jahre hindurch sich zu consolidiren, dann wird
von Seiten Europas die Frage an Frankreich zeitgemäß sein, was es in Rom
zu suchen hat? Bis dahin werden sich auch die östreichischen Verhältnisse auf¬
geklärt haben, und dann wird das natürliche Gleichgewicht Europas, auf die
Uebereinstimmung der Fürsten mit ihren Nationen gegründet, stark genug sein,
das kriegerische Gelüst des Bonapartismus in Schranken zu halten. Wir ge-
hören nicht zu den unbedingten Friedensaposteln, aber die Lage der Dinge
ist heute unzweifelhaft von der Art. daß es heißt: Zeit gewonnen, alles ge¬
wonnen! —




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/169>, abgerufen am 15.01.2025.