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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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möchten fast sagen Hast, mit welcher sich die staatlichen und gesellschaftlichen
Verhältnisse des hellenischen Volkes oder vielmehr der einzelnen Völkerschaften
bilden und vollenden, ein auffälliger Zug in der Geschichte nationalen Lebens,
sodann aber gewahren wir fast durchgängig einen Mangel an Stetigkeit, eine
nachträgliche Opposition gegen das rasch und leicht Erreichte, überhaupt einen
Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, der das begabteste Volk des Alter¬
thums zu einen? ruhigen und dauernden Genusse des Errungenen nicht getan
gen läßt. Die Spartaner allein machen, wenigstens in früherer Zeit, hiervon
eine Ausnahme: bei ihnen entwickelte sich, begünstigt durch die Natur der
unterworfenen fruchtbaren und den Bedürfnissen eines einfachen Lebens genü¬
genden Landschaften, Lakonien und Messenien, der Charakter des dorischen
Stammes in einer Reinheit, die man nicht mit Unrecht Einseitigkeit genannt
hat. und diese spartanische Amathie, wie sehr sie auch den regsamen Korinthern
Grund zum Mißbehagen gab (man vergleiche Thucydid. 1, 68), wirkte in der
That als wohlthätiges Bleigewicht auf die geniale, aber maßlose Vielseitig¬
keit, die in Athen gipfelte und ohne diese Einwirkung ein Aufhören der grie¬
chischen Selbständigkeit vermuthlich noch früher herbeigeführt haben würde.
Thucydides läßt den Kleon in dieser Beziehung ein sehr wahres Wort sprechen
(Buch 3. 37), wenn es auch den gewaltsamen Demagogen zunächst am schärfsten
trifft. Allein selbst der scheinbar dauerhafte Bau der bedächtigen peloponnesischen
Großmacht konnte den nothwendigen Verlauf der Dinge nur um ein Weniges
aushalten oder alteriren; die rasche Beweglichkeit des griechischen Nationalcharak¬
ters überwand seit Lysander allmälig die stabile Schwerfälligkeit der Lacedämo-
nier: durch die lykurgische Gesetzgebung war ebenso wenig wie durch die Ver¬
fassungen der übrigen griechischen Republiken eine solide staatliche Grundlage
gegeben.

Daher der Umstand, daß Griechenland kaum zwei Jahrhunderte lang
eine Stellung einnimmt, in welcher es durch ein großes selbständiges Handeln
wesentlich in den Gang der Weltereignisse eingreift. Die Aufgabe des grie¬
chischen Volkes war weder eine politische, noch in der Hauptsache eine soci¬
ale: zu beiden fehlte den Hellenen die Basis. Schon die klimatischen und
Bodenverhältnisse des Landes, das sie zunächst inne hatten, waren einer gro¬
ßen compacten Machtentfaltung durchaus ungünstig und bedingten gegen¬
seitige Abschließung nach Innen neben unablässiger Erweiterung nach Außen,
wodurch wir abermals den Widerspruch erhalten zwischen der Prädestination
zu einem fortwährenden Particularismus der einzelnen Stämme und dem
centrifugalen Drange nach universaler Geltung, welcher dem Griechen sogar
die Heimath gleichgiltig werden ließ. Hauptsächlich aber ist die schroffe
Scheidung zwischen Freien und Unfreien, zwischen Vollberechtigten und Recht¬
losen, die sich allmälig aus dem Volkscharakter heraus entwickelte, und in


möchten fast sagen Hast, mit welcher sich die staatlichen und gesellschaftlichen
Verhältnisse des hellenischen Volkes oder vielmehr der einzelnen Völkerschaften
bilden und vollenden, ein auffälliger Zug in der Geschichte nationalen Lebens,
sodann aber gewahren wir fast durchgängig einen Mangel an Stetigkeit, eine
nachträgliche Opposition gegen das rasch und leicht Erreichte, überhaupt einen
Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, der das begabteste Volk des Alter¬
thums zu einen? ruhigen und dauernden Genusse des Errungenen nicht getan
gen läßt. Die Spartaner allein machen, wenigstens in früherer Zeit, hiervon
eine Ausnahme: bei ihnen entwickelte sich, begünstigt durch die Natur der
unterworfenen fruchtbaren und den Bedürfnissen eines einfachen Lebens genü¬
genden Landschaften, Lakonien und Messenien, der Charakter des dorischen
Stammes in einer Reinheit, die man nicht mit Unrecht Einseitigkeit genannt
hat. und diese spartanische Amathie, wie sehr sie auch den regsamen Korinthern
Grund zum Mißbehagen gab (man vergleiche Thucydid. 1, 68), wirkte in der
That als wohlthätiges Bleigewicht auf die geniale, aber maßlose Vielseitig¬
keit, die in Athen gipfelte und ohne diese Einwirkung ein Aufhören der grie¬
chischen Selbständigkeit vermuthlich noch früher herbeigeführt haben würde.
Thucydides läßt den Kleon in dieser Beziehung ein sehr wahres Wort sprechen
(Buch 3. 37), wenn es auch den gewaltsamen Demagogen zunächst am schärfsten
trifft. Allein selbst der scheinbar dauerhafte Bau der bedächtigen peloponnesischen
Großmacht konnte den nothwendigen Verlauf der Dinge nur um ein Weniges
aushalten oder alteriren; die rasche Beweglichkeit des griechischen Nationalcharak¬
ters überwand seit Lysander allmälig die stabile Schwerfälligkeit der Lacedämo-
nier: durch die lykurgische Gesetzgebung war ebenso wenig wie durch die Ver¬
fassungen der übrigen griechischen Republiken eine solide staatliche Grundlage
gegeben.

Daher der Umstand, daß Griechenland kaum zwei Jahrhunderte lang
eine Stellung einnimmt, in welcher es durch ein großes selbständiges Handeln
wesentlich in den Gang der Weltereignisse eingreift. Die Aufgabe des grie¬
chischen Volkes war weder eine politische, noch in der Hauptsache eine soci¬
ale: zu beiden fehlte den Hellenen die Basis. Schon die klimatischen und
Bodenverhältnisse des Landes, das sie zunächst inne hatten, waren einer gro¬
ßen compacten Machtentfaltung durchaus ungünstig und bedingten gegen¬
seitige Abschließung nach Innen neben unablässiger Erweiterung nach Außen,
wodurch wir abermals den Widerspruch erhalten zwischen der Prädestination
zu einem fortwährenden Particularismus der einzelnen Stämme und dem
centrifugalen Drange nach universaler Geltung, welcher dem Griechen sogar
die Heimath gleichgiltig werden ließ. Hauptsächlich aber ist die schroffe
Scheidung zwischen Freien und Unfreien, zwischen Vollberechtigten und Recht¬
losen, die sich allmälig aus dem Volkscharakter heraus entwickelte, und in


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[0114] möchten fast sagen Hast, mit welcher sich die staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse des hellenischen Volkes oder vielmehr der einzelnen Völkerschaften bilden und vollenden, ein auffälliger Zug in der Geschichte nationalen Lebens, sodann aber gewahren wir fast durchgängig einen Mangel an Stetigkeit, eine nachträgliche Opposition gegen das rasch und leicht Erreichte, überhaupt einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, der das begabteste Volk des Alter¬ thums zu einen? ruhigen und dauernden Genusse des Errungenen nicht getan gen läßt. Die Spartaner allein machen, wenigstens in früherer Zeit, hiervon eine Ausnahme: bei ihnen entwickelte sich, begünstigt durch die Natur der unterworfenen fruchtbaren und den Bedürfnissen eines einfachen Lebens genü¬ genden Landschaften, Lakonien und Messenien, der Charakter des dorischen Stammes in einer Reinheit, die man nicht mit Unrecht Einseitigkeit genannt hat. und diese spartanische Amathie, wie sehr sie auch den regsamen Korinthern Grund zum Mißbehagen gab (man vergleiche Thucydid. 1, 68), wirkte in der That als wohlthätiges Bleigewicht auf die geniale, aber maßlose Vielseitig¬ keit, die in Athen gipfelte und ohne diese Einwirkung ein Aufhören der grie¬ chischen Selbständigkeit vermuthlich noch früher herbeigeführt haben würde. Thucydides läßt den Kleon in dieser Beziehung ein sehr wahres Wort sprechen (Buch 3. 37), wenn es auch den gewaltsamen Demagogen zunächst am schärfsten trifft. Allein selbst der scheinbar dauerhafte Bau der bedächtigen peloponnesischen Großmacht konnte den nothwendigen Verlauf der Dinge nur um ein Weniges aushalten oder alteriren; die rasche Beweglichkeit des griechischen Nationalcharak¬ ters überwand seit Lysander allmälig die stabile Schwerfälligkeit der Lacedämo- nier: durch die lykurgische Gesetzgebung war ebenso wenig wie durch die Ver¬ fassungen der übrigen griechischen Republiken eine solide staatliche Grundlage gegeben. Daher der Umstand, daß Griechenland kaum zwei Jahrhunderte lang eine Stellung einnimmt, in welcher es durch ein großes selbständiges Handeln wesentlich in den Gang der Weltereignisse eingreift. Die Aufgabe des grie¬ chischen Volkes war weder eine politische, noch in der Hauptsache eine soci¬ ale: zu beiden fehlte den Hellenen die Basis. Schon die klimatischen und Bodenverhältnisse des Landes, das sie zunächst inne hatten, waren einer gro¬ ßen compacten Machtentfaltung durchaus ungünstig und bedingten gegen¬ seitige Abschließung nach Innen neben unablässiger Erweiterung nach Außen, wodurch wir abermals den Widerspruch erhalten zwischen der Prädestination zu einem fortwährenden Particularismus der einzelnen Stämme und dem centrifugalen Drange nach universaler Geltung, welcher dem Griechen sogar die Heimath gleichgiltig werden ließ. Hauptsächlich aber ist die schroffe Scheidung zwischen Freien und Unfreien, zwischen Vollberechtigten und Recht¬ losen, die sich allmälig aus dem Volkscharakter heraus entwickelte, und in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/114>, abgerufen am 15.01.2025.