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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Man konnte und man wollte nicht mehr arbeiten. Hatte, doch Socrates
gelehrt, daß die Schmiede, Zimmerleute, Schuster, wie großes Geschick in ihrem
Gewerbe sie auch besitzen möchten, nickts destoweniger Sklavenseclen hüllen
und nicht wüßten, was schön, gut und gerecht sei. Hochherzigkeit und edle
Gesinnung suche man bei ihnen vergeblich. Aehnlich urtheilt Plato über die
Handwerker: in seinem idealen Staate wird den Gewerbetreibenden eine sehr
gedrückte Stellung zugewiesen, und auch bei Aristoteles unterscheiden sich die
Techniker oder Banausen und Tagelöhner von den Sklaven nur dadurch, daß
diese Einem, jene hingegen Jedermann dienen. Denn durch die Handarbeit,
meint der gelehrte Stagirit, würden Geist und Körper abgestumpft und rohe
ungeschlachte Leute geschaffen: sie würdige den Freien herab, und daher dürfe
weder der gute Staatsmann noch der gute Bürger sich mit ihr befassen. Hät¬
ten die hellenischen Philosophen geahnt, daß etwa zweitausend Jahre später
grade unter denen, die sich der Fertigung von Schuhwerk befleißigen, einige
sehr bedeutende Geister aufstehen würden, von denen einer, ein Sohn der deut¬
schen Stadt Nürnberg, sich als Poet keinen kleinen Ruhm erwarb, während ein
andrer, der görlitzer Schuster, noch den bedeutendsten Weisheitslehrern unsers
Jahrhunderts Achtung abnöthigte; ich glaube, sie würden wenigstens von den
Schustern nicht gesagt haben, daß ihnen der Sinn für das Schöne, Gute und
Gerechte fehle. Doch jene Männer waren Hellenen, und wir können es nur
natürlich finden, daß sie ihre hellenische Denkart auch in ihren Philosophemen
nicht verleugneten, die Niedrigkeit des Handwerks gewissermaßen g, xrivi-i zu
construiren suchten. Gleichwol fragen wir verwundert, wie es kam, daß auch
diese Banausen ohne höhern Sinn sich nach den Theatern drängten, wie sie
Geschmack finden konnten an den tiefen und dunkeln Chorgesängen äschyleischer
Dramen oder an der moralisirenden Tragödie des Euripides, die selbst Leuten,
die man nicht grade roh und ungeschlacht nennen wird, mitunter langweilig
erschienen ist. Oder sollte etwa Sophokles nur für die drei obersten Schätzungs-
clnssen gedichtet haben, ähnlich wie jene Arbuscula des Horaz für ihre muni.
schen Darstellungskünste nur auf den Beifall der römische" Ritterschaft rechnete?
Wir glauben gern, daß Sokrates und seine Schüler ihre Zeitgenossen besser
zu beurtheilen verstanden, als wir es heute versteh", aber es will uns fast be-
dünken, daß ihr Urtheil härter war als billig.

Es ist leicht begreiflich, daß unter diesen Umständen es dem freien, ehren-
werthen Athener außerordentlich erschwert wurde, sich trotz der Vortheile, die
er als Bürger den Schutzverwandten und Sklaven gegenüber hatte, zur Be¬
treibung eines Handwerks zu entschließen. Allerdings war er von der nicht
eben sehr hohen Kopfsteuer, welche die Meester und Sklaven oder für letztere
deren Herrn an den Staat zu zahlen hatten, befreit; ebenso wurde von ihm
eine Gewerbesteuer, wie sie wenigstens die Schutzverwandten und vermuthlich


Man konnte und man wollte nicht mehr arbeiten. Hatte, doch Socrates
gelehrt, daß die Schmiede, Zimmerleute, Schuster, wie großes Geschick in ihrem
Gewerbe sie auch besitzen möchten, nickts destoweniger Sklavenseclen hüllen
und nicht wüßten, was schön, gut und gerecht sei. Hochherzigkeit und edle
Gesinnung suche man bei ihnen vergeblich. Aehnlich urtheilt Plato über die
Handwerker: in seinem idealen Staate wird den Gewerbetreibenden eine sehr
gedrückte Stellung zugewiesen, und auch bei Aristoteles unterscheiden sich die
Techniker oder Banausen und Tagelöhner von den Sklaven nur dadurch, daß
diese Einem, jene hingegen Jedermann dienen. Denn durch die Handarbeit,
meint der gelehrte Stagirit, würden Geist und Körper abgestumpft und rohe
ungeschlachte Leute geschaffen: sie würdige den Freien herab, und daher dürfe
weder der gute Staatsmann noch der gute Bürger sich mit ihr befassen. Hät¬
ten die hellenischen Philosophen geahnt, daß etwa zweitausend Jahre später
grade unter denen, die sich der Fertigung von Schuhwerk befleißigen, einige
sehr bedeutende Geister aufstehen würden, von denen einer, ein Sohn der deut¬
schen Stadt Nürnberg, sich als Poet keinen kleinen Ruhm erwarb, während ein
andrer, der görlitzer Schuster, noch den bedeutendsten Weisheitslehrern unsers
Jahrhunderts Achtung abnöthigte; ich glaube, sie würden wenigstens von den
Schustern nicht gesagt haben, daß ihnen der Sinn für das Schöne, Gute und
Gerechte fehle. Doch jene Männer waren Hellenen, und wir können es nur
natürlich finden, daß sie ihre hellenische Denkart auch in ihren Philosophemen
nicht verleugneten, die Niedrigkeit des Handwerks gewissermaßen g, xrivi-i zu
construiren suchten. Gleichwol fragen wir verwundert, wie es kam, daß auch
diese Banausen ohne höhern Sinn sich nach den Theatern drängten, wie sie
Geschmack finden konnten an den tiefen und dunkeln Chorgesängen äschyleischer
Dramen oder an der moralisirenden Tragödie des Euripides, die selbst Leuten,
die man nicht grade roh und ungeschlacht nennen wird, mitunter langweilig
erschienen ist. Oder sollte etwa Sophokles nur für die drei obersten Schätzungs-
clnssen gedichtet haben, ähnlich wie jene Arbuscula des Horaz für ihre muni.
schen Darstellungskünste nur auf den Beifall der römische» Ritterschaft rechnete?
Wir glauben gern, daß Sokrates und seine Schüler ihre Zeitgenossen besser
zu beurtheilen verstanden, als wir es heute versteh», aber es will uns fast be-
dünken, daß ihr Urtheil härter war als billig.

Es ist leicht begreiflich, daß unter diesen Umständen es dem freien, ehren-
werthen Athener außerordentlich erschwert wurde, sich trotz der Vortheile, die
er als Bürger den Schutzverwandten und Sklaven gegenüber hatte, zur Be¬
treibung eines Handwerks zu entschließen. Allerdings war er von der nicht
eben sehr hohen Kopfsteuer, welche die Meester und Sklaven oder für letztere
deren Herrn an den Staat zu zahlen hatten, befreit; ebenso wurde von ihm
eine Gewerbesteuer, wie sie wenigstens die Schutzverwandten und vermuthlich


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[0107] Man konnte und man wollte nicht mehr arbeiten. Hatte, doch Socrates gelehrt, daß die Schmiede, Zimmerleute, Schuster, wie großes Geschick in ihrem Gewerbe sie auch besitzen möchten, nickts destoweniger Sklavenseclen hüllen und nicht wüßten, was schön, gut und gerecht sei. Hochherzigkeit und edle Gesinnung suche man bei ihnen vergeblich. Aehnlich urtheilt Plato über die Handwerker: in seinem idealen Staate wird den Gewerbetreibenden eine sehr gedrückte Stellung zugewiesen, und auch bei Aristoteles unterscheiden sich die Techniker oder Banausen und Tagelöhner von den Sklaven nur dadurch, daß diese Einem, jene hingegen Jedermann dienen. Denn durch die Handarbeit, meint der gelehrte Stagirit, würden Geist und Körper abgestumpft und rohe ungeschlachte Leute geschaffen: sie würdige den Freien herab, und daher dürfe weder der gute Staatsmann noch der gute Bürger sich mit ihr befassen. Hät¬ ten die hellenischen Philosophen geahnt, daß etwa zweitausend Jahre später grade unter denen, die sich der Fertigung von Schuhwerk befleißigen, einige sehr bedeutende Geister aufstehen würden, von denen einer, ein Sohn der deut¬ schen Stadt Nürnberg, sich als Poet keinen kleinen Ruhm erwarb, während ein andrer, der görlitzer Schuster, noch den bedeutendsten Weisheitslehrern unsers Jahrhunderts Achtung abnöthigte; ich glaube, sie würden wenigstens von den Schustern nicht gesagt haben, daß ihnen der Sinn für das Schöne, Gute und Gerechte fehle. Doch jene Männer waren Hellenen, und wir können es nur natürlich finden, daß sie ihre hellenische Denkart auch in ihren Philosophemen nicht verleugneten, die Niedrigkeit des Handwerks gewissermaßen g, xrivi-i zu construiren suchten. Gleichwol fragen wir verwundert, wie es kam, daß auch diese Banausen ohne höhern Sinn sich nach den Theatern drängten, wie sie Geschmack finden konnten an den tiefen und dunkeln Chorgesängen äschyleischer Dramen oder an der moralisirenden Tragödie des Euripides, die selbst Leuten, die man nicht grade roh und ungeschlacht nennen wird, mitunter langweilig erschienen ist. Oder sollte etwa Sophokles nur für die drei obersten Schätzungs- clnssen gedichtet haben, ähnlich wie jene Arbuscula des Horaz für ihre muni. schen Darstellungskünste nur auf den Beifall der römische» Ritterschaft rechnete? Wir glauben gern, daß Sokrates und seine Schüler ihre Zeitgenossen besser zu beurtheilen verstanden, als wir es heute versteh», aber es will uns fast be- dünken, daß ihr Urtheil härter war als billig. Es ist leicht begreiflich, daß unter diesen Umständen es dem freien, ehren- werthen Athener außerordentlich erschwert wurde, sich trotz der Vortheile, die er als Bürger den Schutzverwandten und Sklaven gegenüber hatte, zur Be¬ treibung eines Handwerks zu entschließen. Allerdings war er von der nicht eben sehr hohen Kopfsteuer, welche die Meester und Sklaven oder für letztere deren Herrn an den Staat zu zahlen hatten, befreit; ebenso wurde von ihm eine Gewerbesteuer, wie sie wenigstens die Schutzverwandten und vermuthlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/107>, abgerufen am 15.01.2025.