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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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über mein Vermögen. Siehe, zu meiner vielen und verhärteten Bosheit
kommt noch die Lectüre verfluchter Bücher, die dich zum Lügner machen wollen.
O Herr ich glaube, hilf aber du meinem Unglauben! -- 2S. Juli. -- Ich
lese in der Bibel, durchgehe die Geschichte des leidenden Erlösers, und denke
zugleich an meine Pflanzen oder an andere Possen. Kommt ein weltlich Blatt,
das mich von den Betrachtungen abruft, so lege ich das Wort Gottes hin,
und lese soviel, daß mir von dem Samen unmöglich ein Körnlein übrig
bleiben kann. -- 1. März 1742. -- In meiner großen Ruhe ist doch keine
wahre Ruhe. Mir fehlt der Friede mit Gott, die Lust, ihm mein Herz zu
öffnen, mir fehlt der Glaube, der ins Leben einstießt. -- 2. Aug. -- Ob-
wol auch das, was ich eben jetzt thue, nicht von aller Heuchelei
frei ist, so komme ich doch zu dir, o Vater. -- 4. Aug. -- Alle Kreaturen
empören sich über mich. Ich finde in der Welt anstatt Vergnügen und Frie¬
den ewigen Widerspruch. Haß und Verachtung. O daß ich mich doch von
dieser Sklaverei losreißen könnte, wo man es so schlimm hat, und mit Ver¬
leugnung der auf lauter Stolz ruhenden Empfindlichkeit mich in die Ordnung
Gottes fügen könnte, woraus alles Uebrige fließen würde. -- 14. Octbr. -- Die
Welt bezahlt mich, wie ich's verdiene. Je mehr ich von Gott weiche, je elen¬
der und unglückseliger werde ich. Mein Hochmuth fordert eine allgemeine
Verehrung, und die wird mir aller Orten abgeschlagen. Verachtung und
Feindschaft zeigen sich täglich deutlicher. -- 15. Octbr. 1744. -- Vielleicht
wäre es besser, wenn ich nur lieber nichts mehr hier aufzeichnete. Was ist
es alles, als halbes, kaltes, laues Geschmack. Ist etwas an meinem Ge¬
müth gebessert oder geändert? Habe ich mehr Demuth, mehr Liebe sür den
Nächsten, mehr Gefühl von Gott und dem Heiland! Ist nicht selbst diese
Schrift eine Heuchelei?

Wir überspringen eine Reihe von Jahren, in denen sich nichts ändert --
das Tagebuch wird zuweilen auch in englischer Sprache geführt, und wenden
uns an den Schluß seines Lebens. -- Nach einer schweren Krankheit meldet
das Tagebuch. 5. April 1772 : Und nun mußte die Seele erwachen. die unter
der einwiegenden Stille der Wissenschaften in einen Schlummer der Sicherheit
verfallen ist. Und nun kann ich mir es nicht mehr bergen, daß ich mit großen
Sünden beladen, gegen Gott kalt, mehr historisch überzeugt als mit wahrer
Liebe belebt, gänzlich außer Stand bin. vor dem Angesicht des Höchsten zu
erscheinen. Und nun fühle ich die Last der Sünden, womit meine Seele ge¬
drückt ist, und das Leere alles dessen, was die Erde und die Menschen zu
ihrer Beruhigung aufbringen können. Wie in einen Abgrund, der ohne Auf-
hören in eine unendliche Tiefe sich versenkt, füllt sie ohne Rettung. wenn Gott
sie nicht rettet. Das Gehirn und das ganze Rüsthaus der Seele ist dabei
wirksam und frei; es sind nicht hypochondrische Dünste, die meine Leiden ver-


über mein Vermögen. Siehe, zu meiner vielen und verhärteten Bosheit
kommt noch die Lectüre verfluchter Bücher, die dich zum Lügner machen wollen.
O Herr ich glaube, hilf aber du meinem Unglauben! — 2S. Juli. — Ich
lese in der Bibel, durchgehe die Geschichte des leidenden Erlösers, und denke
zugleich an meine Pflanzen oder an andere Possen. Kommt ein weltlich Blatt,
das mich von den Betrachtungen abruft, so lege ich das Wort Gottes hin,
und lese soviel, daß mir von dem Samen unmöglich ein Körnlein übrig
bleiben kann. — 1. März 1742. — In meiner großen Ruhe ist doch keine
wahre Ruhe. Mir fehlt der Friede mit Gott, die Lust, ihm mein Herz zu
öffnen, mir fehlt der Glaube, der ins Leben einstießt. — 2. Aug. — Ob-
wol auch das, was ich eben jetzt thue, nicht von aller Heuchelei
frei ist, so komme ich doch zu dir, o Vater. — 4. Aug. — Alle Kreaturen
empören sich über mich. Ich finde in der Welt anstatt Vergnügen und Frie¬
den ewigen Widerspruch. Haß und Verachtung. O daß ich mich doch von
dieser Sklaverei losreißen könnte, wo man es so schlimm hat, und mit Ver¬
leugnung der auf lauter Stolz ruhenden Empfindlichkeit mich in die Ordnung
Gottes fügen könnte, woraus alles Uebrige fließen würde. — 14. Octbr. — Die
Welt bezahlt mich, wie ich's verdiene. Je mehr ich von Gott weiche, je elen¬
der und unglückseliger werde ich. Mein Hochmuth fordert eine allgemeine
Verehrung, und die wird mir aller Orten abgeschlagen. Verachtung und
Feindschaft zeigen sich täglich deutlicher. — 15. Octbr. 1744. — Vielleicht
wäre es besser, wenn ich nur lieber nichts mehr hier aufzeichnete. Was ist
es alles, als halbes, kaltes, laues Geschmack. Ist etwas an meinem Ge¬
müth gebessert oder geändert? Habe ich mehr Demuth, mehr Liebe sür den
Nächsten, mehr Gefühl von Gott und dem Heiland! Ist nicht selbst diese
Schrift eine Heuchelei?

Wir überspringen eine Reihe von Jahren, in denen sich nichts ändert —
das Tagebuch wird zuweilen auch in englischer Sprache geführt, und wenden
uns an den Schluß seines Lebens. — Nach einer schweren Krankheit meldet
das Tagebuch. 5. April 1772 : Und nun mußte die Seele erwachen. die unter
der einwiegenden Stille der Wissenschaften in einen Schlummer der Sicherheit
verfallen ist. Und nun kann ich mir es nicht mehr bergen, daß ich mit großen
Sünden beladen, gegen Gott kalt, mehr historisch überzeugt als mit wahrer
Liebe belebt, gänzlich außer Stand bin. vor dem Angesicht des Höchsten zu
erscheinen. Und nun fühle ich die Last der Sünden, womit meine Seele ge¬
drückt ist, und das Leere alles dessen, was die Erde und die Menschen zu
ihrer Beruhigung aufbringen können. Wie in einen Abgrund, der ohne Auf-
hören in eine unendliche Tiefe sich versenkt, füllt sie ohne Rettung. wenn Gott
sie nicht rettet. Das Gehirn und das ganze Rüsthaus der Seele ist dabei
wirksam und frei; es sind nicht hypochondrische Dünste, die meine Leiden ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/521>, abgerufen am 24.07.2024.