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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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gesinnt war; es machte ihn stutzig, sein Suchen nach dem ersten Christenthum
als eine Schwärmerei zurückgewiesen zu sehn; er erinnerte sich an die vielen
Kindereien, die bei dem herrnhutischen Gottesdienst mit unterliefen, während
er an echtem Inhalt ziemlich leer war. Einiges mag mit seinen eigenen
Worten gesagt werden. "Die Knaben wurden mit Gebeten gemartert, die sie
knieend aus dem Kopfe machen mußten, welches schon meines damaligen Er-
achtens nach Pönitenz genug für diese Kinder war. indem sie manchmal recht
tief nach Worten seufzten und mit genauer Mühe eins erwischen konnten, wo¬
mit sie eine der Natur ganz unbekannte Sache auszudrücken im Stande waren.
Nicht besser ging es den Mägdlein. Dieses von der Natur mit genügsamer
und oft übermäßiger Beredsamkeit versehene Geschlecht war da so arm an
Worten, daß ich außer den bekannten Sprichwörterchen: ach du guter Heiland!
ach du süßer Heiland! fast nichts vernehmliches versteh" konnte." -- "Es
wurden dem Grasen in den Stunden, die er wöchentlich halten mußte,
die allerwichtigsten und einer recht tiefen Betrachtung würdigen Fragen
vorgelegt, die auf verschiedenen Zetteln auf sein Pult gelegt wurden,
ehe er in den Versammlungssaal kam. Eine jede dieser Fragen hätte
allein mehr als eine Stunde Nachsinnen erfordert, allein dieser Mann
Gottes beantwortete sie alle ohne das geringste Nachdenken, sobald er sie nur
gelesen hatte. Ich kann nicht sagen, daß er den Fragenden auf ihre Zweifel
genug gethan hätte: allein das geistige Mengelmus, das er darüber herschüt¬
tete, benahm ihnen zum wenigsten die Kraft, die sie sonst auf die Gemüther
hätten haben können, und diese wurden, anstatt überzeugt zu werden, von der
Verwunderung über die Fertigkeit eingenommen, mit welcher sie dieser begei¬
sterte Mann von der Materie ab und auf ganz andere Dinge zu bringen
wußte." --

Bei alle dem war Edelmann willens nach Herrnhut zurückzukehren: was
ihn später von den Herrnhutern am meisten zurückschreckte, war die Rohheit,
mit welcher sie die Ehe dem Loos überließen. Er gab seine Hauslehrerstelle
auf und zog zunächst zu einem Mann, der gleich ihm ketzerische Schriften aus¬
gekauft hatte, dann zu einem frommen Töpfer, der mit ihm gemeinsam ar¬
beitete. Daß er nicht gleich nach Herrnhut ging, hatte verschiedene Gründe.
Seine Freunde, die Gichtelianer, hatten ihn gewarnt; bei ihnen hatte er in
einer sehr dringenden Verlegenheit (es galt eine Unterstützung seines Bruders)
Geldhilfe gesunden, die ihm Zinzendorf verweigerte, vor allem aber hatte er
noch ein Werk zu vollenden, von dem Zinzendorf nichts wußte.

Noch ehe er nämlich diesen aufsuchte, hatte er den Zweifeln, die ihn quäl¬
ten, einen andern Ausdruck verschafft. Er hatte -- wie er damals glaubte
und wie er noch 17 Jahre später mit geheimem Stolz empfand, aus unmittel¬
bare Inspiration Gottes unter dem Titel "unschuldige Wahrheiten" seine Un-


gesinnt war; es machte ihn stutzig, sein Suchen nach dem ersten Christenthum
als eine Schwärmerei zurückgewiesen zu sehn; er erinnerte sich an die vielen
Kindereien, die bei dem herrnhutischen Gottesdienst mit unterliefen, während
er an echtem Inhalt ziemlich leer war. Einiges mag mit seinen eigenen
Worten gesagt werden. „Die Knaben wurden mit Gebeten gemartert, die sie
knieend aus dem Kopfe machen mußten, welches schon meines damaligen Er-
achtens nach Pönitenz genug für diese Kinder war. indem sie manchmal recht
tief nach Worten seufzten und mit genauer Mühe eins erwischen konnten, wo¬
mit sie eine der Natur ganz unbekannte Sache auszudrücken im Stande waren.
Nicht besser ging es den Mägdlein. Dieses von der Natur mit genügsamer
und oft übermäßiger Beredsamkeit versehene Geschlecht war da so arm an
Worten, daß ich außer den bekannten Sprichwörterchen: ach du guter Heiland!
ach du süßer Heiland! fast nichts vernehmliches versteh» konnte." — „Es
wurden dem Grasen in den Stunden, die er wöchentlich halten mußte,
die allerwichtigsten und einer recht tiefen Betrachtung würdigen Fragen
vorgelegt, die auf verschiedenen Zetteln auf sein Pult gelegt wurden,
ehe er in den Versammlungssaal kam. Eine jede dieser Fragen hätte
allein mehr als eine Stunde Nachsinnen erfordert, allein dieser Mann
Gottes beantwortete sie alle ohne das geringste Nachdenken, sobald er sie nur
gelesen hatte. Ich kann nicht sagen, daß er den Fragenden auf ihre Zweifel
genug gethan hätte: allein das geistige Mengelmus, das er darüber herschüt¬
tete, benahm ihnen zum wenigsten die Kraft, die sie sonst auf die Gemüther
hätten haben können, und diese wurden, anstatt überzeugt zu werden, von der
Verwunderung über die Fertigkeit eingenommen, mit welcher sie dieser begei¬
sterte Mann von der Materie ab und auf ganz andere Dinge zu bringen
wußte." —

Bei alle dem war Edelmann willens nach Herrnhut zurückzukehren: was
ihn später von den Herrnhutern am meisten zurückschreckte, war die Rohheit,
mit welcher sie die Ehe dem Loos überließen. Er gab seine Hauslehrerstelle
auf und zog zunächst zu einem Mann, der gleich ihm ketzerische Schriften aus¬
gekauft hatte, dann zu einem frommen Töpfer, der mit ihm gemeinsam ar¬
beitete. Daß er nicht gleich nach Herrnhut ging, hatte verschiedene Gründe.
Seine Freunde, die Gichtelianer, hatten ihn gewarnt; bei ihnen hatte er in
einer sehr dringenden Verlegenheit (es galt eine Unterstützung seines Bruders)
Geldhilfe gesunden, die ihm Zinzendorf verweigerte, vor allem aber hatte er
noch ein Werk zu vollenden, von dem Zinzendorf nichts wußte.

Noch ehe er nämlich diesen aufsuchte, hatte er den Zweifeln, die ihn quäl¬
ten, einen andern Ausdruck verschafft. Er hatte — wie er damals glaubte
und wie er noch 17 Jahre später mit geheimem Stolz empfand, aus unmittel¬
bare Inspiration Gottes unter dem Titel „unschuldige Wahrheiten" seine Un-


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[0478] gesinnt war; es machte ihn stutzig, sein Suchen nach dem ersten Christenthum als eine Schwärmerei zurückgewiesen zu sehn; er erinnerte sich an die vielen Kindereien, die bei dem herrnhutischen Gottesdienst mit unterliefen, während er an echtem Inhalt ziemlich leer war. Einiges mag mit seinen eigenen Worten gesagt werden. „Die Knaben wurden mit Gebeten gemartert, die sie knieend aus dem Kopfe machen mußten, welches schon meines damaligen Er- achtens nach Pönitenz genug für diese Kinder war. indem sie manchmal recht tief nach Worten seufzten und mit genauer Mühe eins erwischen konnten, wo¬ mit sie eine der Natur ganz unbekannte Sache auszudrücken im Stande waren. Nicht besser ging es den Mägdlein. Dieses von der Natur mit genügsamer und oft übermäßiger Beredsamkeit versehene Geschlecht war da so arm an Worten, daß ich außer den bekannten Sprichwörterchen: ach du guter Heiland! ach du süßer Heiland! fast nichts vernehmliches versteh» konnte." — „Es wurden dem Grasen in den Stunden, die er wöchentlich halten mußte, die allerwichtigsten und einer recht tiefen Betrachtung würdigen Fragen vorgelegt, die auf verschiedenen Zetteln auf sein Pult gelegt wurden, ehe er in den Versammlungssaal kam. Eine jede dieser Fragen hätte allein mehr als eine Stunde Nachsinnen erfordert, allein dieser Mann Gottes beantwortete sie alle ohne das geringste Nachdenken, sobald er sie nur gelesen hatte. Ich kann nicht sagen, daß er den Fragenden auf ihre Zweifel genug gethan hätte: allein das geistige Mengelmus, das er darüber herschüt¬ tete, benahm ihnen zum wenigsten die Kraft, die sie sonst auf die Gemüther hätten haben können, und diese wurden, anstatt überzeugt zu werden, von der Verwunderung über die Fertigkeit eingenommen, mit welcher sie dieser begei¬ sterte Mann von der Materie ab und auf ganz andere Dinge zu bringen wußte." — Bei alle dem war Edelmann willens nach Herrnhut zurückzukehren: was ihn später von den Herrnhutern am meisten zurückschreckte, war die Rohheit, mit welcher sie die Ehe dem Loos überließen. Er gab seine Hauslehrerstelle auf und zog zunächst zu einem Mann, der gleich ihm ketzerische Schriften aus¬ gekauft hatte, dann zu einem frommen Töpfer, der mit ihm gemeinsam ar¬ beitete. Daß er nicht gleich nach Herrnhut ging, hatte verschiedene Gründe. Seine Freunde, die Gichtelianer, hatten ihn gewarnt; bei ihnen hatte er in einer sehr dringenden Verlegenheit (es galt eine Unterstützung seines Bruders) Geldhilfe gesunden, die ihm Zinzendorf verweigerte, vor allem aber hatte er noch ein Werk zu vollenden, von dem Zinzendorf nichts wußte. Noch ehe er nämlich diesen aufsuchte, hatte er den Zweifeln, die ihn quäl¬ ten, einen andern Ausdruck verschafft. Er hatte — wie er damals glaubte und wie er noch 17 Jahre später mit geheimem Stolz empfand, aus unmittel¬ bare Inspiration Gottes unter dem Titel „unschuldige Wahrheiten" seine Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/478>, abgerufen am 25.07.2024.