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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Himmel herunterregnet, als ob von da oben einige Centurien modernster Ly¬
riker ihre Poesie über die Erde ausgossen und mit derselben Hartnäckigkeit,
ist es dann einem halbwegs literarischen Reisenden zu verdenken, wenn er
anfangt sentimental oder romantisch zu werden und in dieser sentimental-ro¬
mantischen Stimmung den Beschluß saßt, sich von den Geistern des alten
Musensitzes umschauern zu lassen?

Der Weg nach Ferney, welches etwa anderthalb Stunden nördlich von
Gens liegt, führt durch eine Reihe hübscher Landhäuser in sauber gehaltenen
Gärten. Das Terrain ist hügelig, und nachdem man das Städtchen
Fernen selbst durchfahren hat, führt der Weg zu Schloß und Park bergan.
Vor dem Schlosse selbst, welches jetzt einem Franzosen gehört, erblickt man zu¬
erst die berühmte von Voltaire erbaute Kirche mit der noch berühmteren In¬
"veo erexit Voltaire
Roca:i.xi."
schrift:

Der prahlenden den ganzen Voltaire zeichnenden Inschrift entspricht das
in sehr barbarischem Stil gebaute unansehnliche Haus durchaus nicht. Es ist
gegenwärtig leer und wird nicht mehr benutzt. Von ganz anderer Wirkung "
ist der Eintritt in den Garten. Biumenterrassen empfangen den Besucher und
zeigen ihm im Hintergrund einen Park mit schönen alten Bäumen, die zu
Voltaires Zeiten jung gewesen sein mögen. In diesem selben Park bat der
greise Voltaire gewandelt, unter diesen Bäumen neben vielen großen Gedanken
auch manche kleine Bosheiten erdacht, in diesen Schatten an Friedrich den
Großen geschrieben und der Entdeckung nachgesonnen, daß Shakspeare einem
betrunkenen Wilden gleiche. Hier in der That, umsäuselt von den Erinnerungen
einer längst hinabgeschwundenen Zeit, bietet sich für den empfindsam gestimm¬
ten Besucher die schönste Gelegenheit sich von sanfter Wehmuth rühren zu
lassen, zumal wenn er wie ich das alles, Schloß und Park und Geister des
vorigen Jahrhunderts,


"schweigend in der Abenddämmerung Schleier"

zu beschauen hat. Zwei Zimmer sind es in dem Schloß, die noch als die
Voltaires gezeigt werden und im alten Zustand verblieben sind. Vom Garten
aus treten wir zunächst in den "Salon", in das Wohnzimmer des einstigen
Besitzers. Rococomöbeln stehen herum, mythologische Bilder, eine Pvmona
und dergleichen an den Wänden. An die eine Wand lehnt sich eine hohe
Pyramide aus schwarzem und grauem Marmor mit einer Urne: dieses Denk¬
mal enthält Voltaires Herz! Oben liest man die Inschrift:


"Reh manss sont eonsolss, pareeaus raou eosur est
an Milieu ac vous."

Unten steht:


"Lor esxrit est partout, et sou coeur est loi."

Himmel herunterregnet, als ob von da oben einige Centurien modernster Ly¬
riker ihre Poesie über die Erde ausgossen und mit derselben Hartnäckigkeit,
ist es dann einem halbwegs literarischen Reisenden zu verdenken, wenn er
anfangt sentimental oder romantisch zu werden und in dieser sentimental-ro¬
mantischen Stimmung den Beschluß saßt, sich von den Geistern des alten
Musensitzes umschauern zu lassen?

Der Weg nach Ferney, welches etwa anderthalb Stunden nördlich von
Gens liegt, führt durch eine Reihe hübscher Landhäuser in sauber gehaltenen
Gärten. Das Terrain ist hügelig, und nachdem man das Städtchen
Fernen selbst durchfahren hat, führt der Weg zu Schloß und Park bergan.
Vor dem Schlosse selbst, welches jetzt einem Franzosen gehört, erblickt man zu¬
erst die berühmte von Voltaire erbaute Kirche mit der noch berühmteren In¬
„veo erexit Voltaire
Roca:i.xi."
schrift:

Der prahlenden den ganzen Voltaire zeichnenden Inschrift entspricht das
in sehr barbarischem Stil gebaute unansehnliche Haus durchaus nicht. Es ist
gegenwärtig leer und wird nicht mehr benutzt. Von ganz anderer Wirkung »
ist der Eintritt in den Garten. Biumenterrassen empfangen den Besucher und
zeigen ihm im Hintergrund einen Park mit schönen alten Bäumen, die zu
Voltaires Zeiten jung gewesen sein mögen. In diesem selben Park bat der
greise Voltaire gewandelt, unter diesen Bäumen neben vielen großen Gedanken
auch manche kleine Bosheiten erdacht, in diesen Schatten an Friedrich den
Großen geschrieben und der Entdeckung nachgesonnen, daß Shakspeare einem
betrunkenen Wilden gleiche. Hier in der That, umsäuselt von den Erinnerungen
einer längst hinabgeschwundenen Zeit, bietet sich für den empfindsam gestimm¬
ten Besucher die schönste Gelegenheit sich von sanfter Wehmuth rühren zu
lassen, zumal wenn er wie ich das alles, Schloß und Park und Geister des
vorigen Jahrhunderts,


„schweigend in der Abenddämmerung Schleier"

zu beschauen hat. Zwei Zimmer sind es in dem Schloß, die noch als die
Voltaires gezeigt werden und im alten Zustand verblieben sind. Vom Garten
aus treten wir zunächst in den „Salon", in das Wohnzimmer des einstigen
Besitzers. Rococomöbeln stehen herum, mythologische Bilder, eine Pvmona
und dergleichen an den Wänden. An die eine Wand lehnt sich eine hohe
Pyramide aus schwarzem und grauem Marmor mit einer Urne: dieses Denk¬
mal enthält Voltaires Herz! Oben liest man die Inschrift:


„Reh manss sont eonsolss, pareeaus raou eosur est
an Milieu ac vous."

Unten steht:


„Lor esxrit est partout, et sou coeur est loi."
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[0444] Himmel herunterregnet, als ob von da oben einige Centurien modernster Ly¬ riker ihre Poesie über die Erde ausgossen und mit derselben Hartnäckigkeit, ist es dann einem halbwegs literarischen Reisenden zu verdenken, wenn er anfangt sentimental oder romantisch zu werden und in dieser sentimental-ro¬ mantischen Stimmung den Beschluß saßt, sich von den Geistern des alten Musensitzes umschauern zu lassen? Der Weg nach Ferney, welches etwa anderthalb Stunden nördlich von Gens liegt, führt durch eine Reihe hübscher Landhäuser in sauber gehaltenen Gärten. Das Terrain ist hügelig, und nachdem man das Städtchen Fernen selbst durchfahren hat, führt der Weg zu Schloß und Park bergan. Vor dem Schlosse selbst, welches jetzt einem Franzosen gehört, erblickt man zu¬ erst die berühmte von Voltaire erbaute Kirche mit der noch berühmteren In¬ „veo erexit Voltaire Roca:i.xi." schrift: Der prahlenden den ganzen Voltaire zeichnenden Inschrift entspricht das in sehr barbarischem Stil gebaute unansehnliche Haus durchaus nicht. Es ist gegenwärtig leer und wird nicht mehr benutzt. Von ganz anderer Wirkung » ist der Eintritt in den Garten. Biumenterrassen empfangen den Besucher und zeigen ihm im Hintergrund einen Park mit schönen alten Bäumen, die zu Voltaires Zeiten jung gewesen sein mögen. In diesem selben Park bat der greise Voltaire gewandelt, unter diesen Bäumen neben vielen großen Gedanken auch manche kleine Bosheiten erdacht, in diesen Schatten an Friedrich den Großen geschrieben und der Entdeckung nachgesonnen, daß Shakspeare einem betrunkenen Wilden gleiche. Hier in der That, umsäuselt von den Erinnerungen einer längst hinabgeschwundenen Zeit, bietet sich für den empfindsam gestimm¬ ten Besucher die schönste Gelegenheit sich von sanfter Wehmuth rühren zu lassen, zumal wenn er wie ich das alles, Schloß und Park und Geister des vorigen Jahrhunderts, „schweigend in der Abenddämmerung Schleier" zu beschauen hat. Zwei Zimmer sind es in dem Schloß, die noch als die Voltaires gezeigt werden und im alten Zustand verblieben sind. Vom Garten aus treten wir zunächst in den „Salon", in das Wohnzimmer des einstigen Besitzers. Rococomöbeln stehen herum, mythologische Bilder, eine Pvmona und dergleichen an den Wänden. An die eine Wand lehnt sich eine hohe Pyramide aus schwarzem und grauem Marmor mit einer Urne: dieses Denk¬ mal enthält Voltaires Herz! Oben liest man die Inschrift: „Reh manss sont eonsolss, pareeaus raou eosur est an Milieu ac vous." Unten steht: „Lor esxrit est partout, et sou coeur est loi."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/444>, abgerufen am 24.07.2024.