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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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stechung verstopften, unwirksam gemacht, und die Nachsicht der Pforte g?gen die
Bauernschinderei ihrer Statthalter war nie größer, Die Geldverlegenheit in
Konstantinopel bildet seitdem einen stehenden Artikel in jeder Zeitung, selbst
der Sultan publiant dann und wann tragikomische Edicte darüber, und die
Hauptstadt erzählt sich wunderbare Dinge über die Mittelchen, zu denen dies
edle Staatsoberhaupt greift, um die Subsistenzmittei für seine zahlreiche Fa¬
milie zu beschaffen, ohne seine überwuchernden Micawbervcrpflichtungen zu
vermehren. Endlich ist auch die Armee, die beste unter den Schöpfungen der tür¬
kischen Neuzeit, nachdem sie das mit unregelmäßiger Soldzahlung verbundene
Ungemach so viele Jahre hindurch männlich getragen, von der allgemeinen
Gcldwuth inficirt worden; die Garnisonchefs, früher immer die ehrlichen Wi¬
dersacher der provinciellen Civiladministratorcn, haben sich jetzt fast überall
mit ihnen über einen Theil der, auf Kosten der Bevölkerung zu machenden
Gewinne verständigt, und entfremden sich durch ihren Geiz die hungernden,
zerlumpten Soldaten, bei welchen Excesse täglich häusiger werden.

Freilich hat -- trotz der glorreichen Vertheidigung von Silistrici und der
kleinen Erfolge von Kalcisat und Kars -- der Bestand der Türkei dem nor¬
dischen Koloß gegenüber längst nicht mehr auf eigner Macht beruht; das weiß
man in Rußland so gut, wie es der Pforte kein Geheimniß ist. Woher nahm
diese im Jahre 1853 den Muth, dem gewaltigen und damals gar noch mit
Vergrößerungsgläsern angestaunten Zaren zu widerstehen, wenn nicht ans der
Ueberzeugung, daß im Interesse ihrer Selbsterhaltung die andern vier Gro߬
mächte sie nicht könnten erdrücken lassen? Nußland betrachtete von je her die
Lösung der orientalischen Frage als sein historisches Recht; aber wegen der
widerstrebenden Politik der Großmächte erschien ihm das Recht zugleich als
eine schwere, höchst gefährliche Pflicht; dieser Pflicht glaubte es sich nicht
entziehen zu können, und ihr zu genügen deuchte ihm eine mächtige, in den
Eingeweiden der Türkei selbst sich für es erhebende Unterstützung unerläßlich.
Diese Unterstützung ist, wie man leicht versteht, die Sympathie der Rajah-
nationcn griechischen Glaubens, welche sich bis vor wenig Jahren in steigendem
Maße an den Namen Rußlands knüpfte. Noch vor anderthalb Decennien
würde Niemand gezweifelt haben, daß das Absterben des muselmännischen
Elements in der europäischen Türkei nur Rußland zu Gute komme; das Kö¬
nigreich Griechenland vermochte kaum ein Bruchthcilchen der Rajahsympathien
an sich zu ziehen. Seit zehn Jahren aber hat sich allmälig im Verborgenen
ein Umschwung vorbereitet, welcher jetzt auf der Oberfläche seine Stelle zu
erobern anfängt. Die türkischen Griechen,- das einflußreichste und gebildetste
unter Rußlands Schutzvölkern, richten ihre Blicke nach Athen, als dem sich
immer würdiger entfaltenden Mittelpunkte ihrer nationalen Bildung, die Ser¬
ben mit den Bosniern und Bulgaren zeigen, ebenso wie die Rumänen, denk-


stechung verstopften, unwirksam gemacht, und die Nachsicht der Pforte g?gen die
Bauernschinderei ihrer Statthalter war nie größer, Die Geldverlegenheit in
Konstantinopel bildet seitdem einen stehenden Artikel in jeder Zeitung, selbst
der Sultan publiant dann und wann tragikomische Edicte darüber, und die
Hauptstadt erzählt sich wunderbare Dinge über die Mittelchen, zu denen dies
edle Staatsoberhaupt greift, um die Subsistenzmittei für seine zahlreiche Fa¬
milie zu beschaffen, ohne seine überwuchernden Micawbervcrpflichtungen zu
vermehren. Endlich ist auch die Armee, die beste unter den Schöpfungen der tür¬
kischen Neuzeit, nachdem sie das mit unregelmäßiger Soldzahlung verbundene
Ungemach so viele Jahre hindurch männlich getragen, von der allgemeinen
Gcldwuth inficirt worden; die Garnisonchefs, früher immer die ehrlichen Wi¬
dersacher der provinciellen Civiladministratorcn, haben sich jetzt fast überall
mit ihnen über einen Theil der, auf Kosten der Bevölkerung zu machenden
Gewinne verständigt, und entfremden sich durch ihren Geiz die hungernden,
zerlumpten Soldaten, bei welchen Excesse täglich häusiger werden.

Freilich hat — trotz der glorreichen Vertheidigung von Silistrici und der
kleinen Erfolge von Kalcisat und Kars — der Bestand der Türkei dem nor¬
dischen Koloß gegenüber längst nicht mehr auf eigner Macht beruht; das weiß
man in Rußland so gut, wie es der Pforte kein Geheimniß ist. Woher nahm
diese im Jahre 1853 den Muth, dem gewaltigen und damals gar noch mit
Vergrößerungsgläsern angestaunten Zaren zu widerstehen, wenn nicht ans der
Ueberzeugung, daß im Interesse ihrer Selbsterhaltung die andern vier Gro߬
mächte sie nicht könnten erdrücken lassen? Nußland betrachtete von je her die
Lösung der orientalischen Frage als sein historisches Recht; aber wegen der
widerstrebenden Politik der Großmächte erschien ihm das Recht zugleich als
eine schwere, höchst gefährliche Pflicht; dieser Pflicht glaubte es sich nicht
entziehen zu können, und ihr zu genügen deuchte ihm eine mächtige, in den
Eingeweiden der Türkei selbst sich für es erhebende Unterstützung unerläßlich.
Diese Unterstützung ist, wie man leicht versteht, die Sympathie der Rajah-
nationcn griechischen Glaubens, welche sich bis vor wenig Jahren in steigendem
Maße an den Namen Rußlands knüpfte. Noch vor anderthalb Decennien
würde Niemand gezweifelt haben, daß das Absterben des muselmännischen
Elements in der europäischen Türkei nur Rußland zu Gute komme; das Kö¬
nigreich Griechenland vermochte kaum ein Bruchthcilchen der Rajahsympathien
an sich zu ziehen. Seit zehn Jahren aber hat sich allmälig im Verborgenen
ein Umschwung vorbereitet, welcher jetzt auf der Oberfläche seine Stelle zu
erobern anfängt. Die türkischen Griechen,- das einflußreichste und gebildetste
unter Rußlands Schutzvölkern, richten ihre Blicke nach Athen, als dem sich
immer würdiger entfaltenden Mittelpunkte ihrer nationalen Bildung, die Ser¬
ben mit den Bosniern und Bulgaren zeigen, ebenso wie die Rumänen, denk-


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[0328] stechung verstopften, unwirksam gemacht, und die Nachsicht der Pforte g?gen die Bauernschinderei ihrer Statthalter war nie größer, Die Geldverlegenheit in Konstantinopel bildet seitdem einen stehenden Artikel in jeder Zeitung, selbst der Sultan publiant dann und wann tragikomische Edicte darüber, und die Hauptstadt erzählt sich wunderbare Dinge über die Mittelchen, zu denen dies edle Staatsoberhaupt greift, um die Subsistenzmittei für seine zahlreiche Fa¬ milie zu beschaffen, ohne seine überwuchernden Micawbervcrpflichtungen zu vermehren. Endlich ist auch die Armee, die beste unter den Schöpfungen der tür¬ kischen Neuzeit, nachdem sie das mit unregelmäßiger Soldzahlung verbundene Ungemach so viele Jahre hindurch männlich getragen, von der allgemeinen Gcldwuth inficirt worden; die Garnisonchefs, früher immer die ehrlichen Wi¬ dersacher der provinciellen Civiladministratorcn, haben sich jetzt fast überall mit ihnen über einen Theil der, auf Kosten der Bevölkerung zu machenden Gewinne verständigt, und entfremden sich durch ihren Geiz die hungernden, zerlumpten Soldaten, bei welchen Excesse täglich häusiger werden. Freilich hat — trotz der glorreichen Vertheidigung von Silistrici und der kleinen Erfolge von Kalcisat und Kars — der Bestand der Türkei dem nor¬ dischen Koloß gegenüber längst nicht mehr auf eigner Macht beruht; das weiß man in Rußland so gut, wie es der Pforte kein Geheimniß ist. Woher nahm diese im Jahre 1853 den Muth, dem gewaltigen und damals gar noch mit Vergrößerungsgläsern angestaunten Zaren zu widerstehen, wenn nicht ans der Ueberzeugung, daß im Interesse ihrer Selbsterhaltung die andern vier Gro߬ mächte sie nicht könnten erdrücken lassen? Nußland betrachtete von je her die Lösung der orientalischen Frage als sein historisches Recht; aber wegen der widerstrebenden Politik der Großmächte erschien ihm das Recht zugleich als eine schwere, höchst gefährliche Pflicht; dieser Pflicht glaubte es sich nicht entziehen zu können, und ihr zu genügen deuchte ihm eine mächtige, in den Eingeweiden der Türkei selbst sich für es erhebende Unterstützung unerläßlich. Diese Unterstützung ist, wie man leicht versteht, die Sympathie der Rajah- nationcn griechischen Glaubens, welche sich bis vor wenig Jahren in steigendem Maße an den Namen Rußlands knüpfte. Noch vor anderthalb Decennien würde Niemand gezweifelt haben, daß das Absterben des muselmännischen Elements in der europäischen Türkei nur Rußland zu Gute komme; das Kö¬ nigreich Griechenland vermochte kaum ein Bruchthcilchen der Rajahsympathien an sich zu ziehen. Seit zehn Jahren aber hat sich allmälig im Verborgenen ein Umschwung vorbereitet, welcher jetzt auf der Oberfläche seine Stelle zu erobern anfängt. Die türkischen Griechen,- das einflußreichste und gebildetste unter Rußlands Schutzvölkern, richten ihre Blicke nach Athen, als dem sich immer würdiger entfaltenden Mittelpunkte ihrer nationalen Bildung, die Ser¬ ben mit den Bosniern und Bulgaren zeigen, ebenso wie die Rumänen, denk-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/328>, abgerufen am 25.07.2024.