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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Weiß ich doch nicht, wen ich nenne, Das, so lang ich leb' und brenne
Doch genug! es ist ein Bild, Mir allein das Herze stillt. (S. 241)

Nachdem sich Günther kurze Zeit in Frankfurt a. O. aufgehalten, kam^er
Mitte November 1715 nach Wittenberg, um Medicin zu studiren: einige Vor¬
kenntnisse darin hatte ihm schon sein Vater beigebracht. Wittenberg war die
rechtgläubigste, und was die studirende Jugend betrifft, die liederlichste und
rohste aller deutschen Universitäten; wenn sich Günther im Anfang fleißig und
ordentlich hielt, so verfehlte bald das wilde Burschenleben seine Wirkung nicht.
Er scheint es ziemlich arg getrieben zu haben; wenn man aber den Abscheu
ansieht, mit dem man heute diese Lebensperiode bespricht, so sollte man
meinen, man lebte heut auf den Universitäten erstaunlich tugendhaft. -- Aus
den Studentenliedern kann man weiter nichts herauslesen, als Vorliebe für
geistige Getränke, Tabak, Lärm und Abenteuer mit Schonen; wir können ihnen
nicht so viel Geschmack abgewinnen, als zuweilen geschieht. Seine Ausschwei¬
fungen in der Liebe -- gleichviel was davon Einbildung oder Wirklichkeit
war -- rechtfertigt der Dichter vor sich selbst mit einer bittern Erfahrung:
Leonore war ihm untreu geworden, sie hatte 24. Jan. 1716 (ein Vierteljahr
nach seiner Abreise!) einem reichen alten Herrn die Hand gegeben.

. . . Jetzt seh' ich die Triebe der thörichten Liebe
Vernünftiger an.
Ich breche die Fessel, ich löse mein Herz,
Und hasse mit Vorsatz den zärtlichen Schmerz...
Komm, selige Freiheit! und dämpfe den Brand,
Der meinem Gemüthe die Weisheit entwandt!..
Es lodern die Briefe, der Ring bricht entzwei,
Und zeigt meiner Schönen: nun leb' ich recht frei!
Nun leb' ich recht frei, und schwöre von Herzen,
Daß Küssen und Scherzen nur Narrenspiel sei.
Denn wer sich verliebet, der ist wol nicht klug --
Geh falsche Sirene! ich habe genug. (S. 242).
... Nur kommt mir nicht etwa mit albernen Possen,
Und rückt mir mit starken Versprechungen vor!
Im Lieben hat wahrlich die Rache kein Ohr.
Ich schwöre verbindlich,- bis daß ich genossen,
Und bin ich dann fertig, dann Schwert' ich den Hut,
Und gehe zur andern, die eben das thut. (S. 258)

Das ist gewiß nicht zu loben; aber wenn ihn Gervinus deshalb für einen
Vorläufer des jungen Deutschlands, für einen Prediger der "freien Liebe" aus¬
gibt, so übersieht er, daß dies keine Maximen sein sollen, sondern individuelle
Stimmungen des Moments. Seine Geliebte ist ihm untreu geworden, und aus


Weiß ich doch nicht, wen ich nenne, Das, so lang ich leb' und brenne
Doch genug! es ist ein Bild, Mir allein das Herze stillt. (S. 241)

Nachdem sich Günther kurze Zeit in Frankfurt a. O. aufgehalten, kam^er
Mitte November 1715 nach Wittenberg, um Medicin zu studiren: einige Vor¬
kenntnisse darin hatte ihm schon sein Vater beigebracht. Wittenberg war die
rechtgläubigste, und was die studirende Jugend betrifft, die liederlichste und
rohste aller deutschen Universitäten; wenn sich Günther im Anfang fleißig und
ordentlich hielt, so verfehlte bald das wilde Burschenleben seine Wirkung nicht.
Er scheint es ziemlich arg getrieben zu haben; wenn man aber den Abscheu
ansieht, mit dem man heute diese Lebensperiode bespricht, so sollte man
meinen, man lebte heut auf den Universitäten erstaunlich tugendhaft. — Aus
den Studentenliedern kann man weiter nichts herauslesen, als Vorliebe für
geistige Getränke, Tabak, Lärm und Abenteuer mit Schonen; wir können ihnen
nicht so viel Geschmack abgewinnen, als zuweilen geschieht. Seine Ausschwei¬
fungen in der Liebe — gleichviel was davon Einbildung oder Wirklichkeit
war — rechtfertigt der Dichter vor sich selbst mit einer bittern Erfahrung:
Leonore war ihm untreu geworden, sie hatte 24. Jan. 1716 (ein Vierteljahr
nach seiner Abreise!) einem reichen alten Herrn die Hand gegeben.

. . . Jetzt seh' ich die Triebe der thörichten Liebe
Vernünftiger an.
Ich breche die Fessel, ich löse mein Herz,
Und hasse mit Vorsatz den zärtlichen Schmerz...
Komm, selige Freiheit! und dämpfe den Brand,
Der meinem Gemüthe die Weisheit entwandt!..
Es lodern die Briefe, der Ring bricht entzwei,
Und zeigt meiner Schönen: nun leb' ich recht frei!
Nun leb' ich recht frei, und schwöre von Herzen,
Daß Küssen und Scherzen nur Narrenspiel sei.
Denn wer sich verliebet, der ist wol nicht klug —
Geh falsche Sirene! ich habe genug. (S. 242).
... Nur kommt mir nicht etwa mit albernen Possen,
Und rückt mir mit starken Versprechungen vor!
Im Lieben hat wahrlich die Rache kein Ohr.
Ich schwöre verbindlich,- bis daß ich genossen,
Und bin ich dann fertig, dann Schwert' ich den Hut,
Und gehe zur andern, die eben das thut. (S. 258)

Das ist gewiß nicht zu loben; aber wenn ihn Gervinus deshalb für einen
Vorläufer des jungen Deutschlands, für einen Prediger der „freien Liebe" aus¬
gibt, so übersieht er, daß dies keine Maximen sein sollen, sondern individuelle
Stimmungen des Moments. Seine Geliebte ist ihm untreu geworden, und aus


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[0300] Weiß ich doch nicht, wen ich nenne, Das, so lang ich leb' und brenne Doch genug! es ist ein Bild, Mir allein das Herze stillt. (S. 241) Nachdem sich Günther kurze Zeit in Frankfurt a. O. aufgehalten, kam^er Mitte November 1715 nach Wittenberg, um Medicin zu studiren: einige Vor¬ kenntnisse darin hatte ihm schon sein Vater beigebracht. Wittenberg war die rechtgläubigste, und was die studirende Jugend betrifft, die liederlichste und rohste aller deutschen Universitäten; wenn sich Günther im Anfang fleißig und ordentlich hielt, so verfehlte bald das wilde Burschenleben seine Wirkung nicht. Er scheint es ziemlich arg getrieben zu haben; wenn man aber den Abscheu ansieht, mit dem man heute diese Lebensperiode bespricht, so sollte man meinen, man lebte heut auf den Universitäten erstaunlich tugendhaft. — Aus den Studentenliedern kann man weiter nichts herauslesen, als Vorliebe für geistige Getränke, Tabak, Lärm und Abenteuer mit Schonen; wir können ihnen nicht so viel Geschmack abgewinnen, als zuweilen geschieht. Seine Ausschwei¬ fungen in der Liebe — gleichviel was davon Einbildung oder Wirklichkeit war — rechtfertigt der Dichter vor sich selbst mit einer bittern Erfahrung: Leonore war ihm untreu geworden, sie hatte 24. Jan. 1716 (ein Vierteljahr nach seiner Abreise!) einem reichen alten Herrn die Hand gegeben. . . . Jetzt seh' ich die Triebe der thörichten Liebe Vernünftiger an. Ich breche die Fessel, ich löse mein Herz, Und hasse mit Vorsatz den zärtlichen Schmerz... Komm, selige Freiheit! und dämpfe den Brand, Der meinem Gemüthe die Weisheit entwandt!.. Es lodern die Briefe, der Ring bricht entzwei, Und zeigt meiner Schönen: nun leb' ich recht frei! Nun leb' ich recht frei, und schwöre von Herzen, Daß Küssen und Scherzen nur Narrenspiel sei. Denn wer sich verliebet, der ist wol nicht klug — Geh falsche Sirene! ich habe genug. (S. 242). ... Nur kommt mir nicht etwa mit albernen Possen, Und rückt mir mit starken Versprechungen vor! Im Lieben hat wahrlich die Rache kein Ohr. Ich schwöre verbindlich,- bis daß ich genossen, Und bin ich dann fertig, dann Schwert' ich den Hut, Und gehe zur andern, die eben das thut. (S. 258) Das ist gewiß nicht zu loben; aber wenn ihn Gervinus deshalb für einen Vorläufer des jungen Deutschlands, für einen Prediger der „freien Liebe" aus¬ gibt, so übersieht er, daß dies keine Maximen sein sollen, sondern individuelle Stimmungen des Moments. Seine Geliebte ist ihm untreu geworden, und aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/300>, abgerufen am 25.07.2024.