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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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seiner Heimat waren ebenso belehrend als anregend. Um das russische Volk
grade in seiner Beziehung zu Jerusalem kennen zu lernen, hatte ich als Reise-
vorbcrcitung das Buch der Gräfin Bagrecf-Spcranski, 1s ?vlöiin Kusse, durch-
gelesen, dasselbe aber so idealisirt, so der Wirklichkeit entfremdet gesunden, daß
mir nicht einmal Zweifel an der Thatsache der russischen Pilgerfahrten dadurch
widerlegt schienen. Doppelt interessant war mirs nunmehr, nicht mit Helden
und Heldinnen unbekannter Zeiten, wie die gedachte Schriftstellerin sie dem
Publikum vorführt, sondern mit wirklichen wallfahrenden Mujiks auf der
Christenstraße zuftunmcnzutrcffen.

Seltsam genug war die Scene dieser ersten Begegnung; -- gewiß bietet
die Christenstraße Jerusalems in der Osterzeit einen sich auf Erden in gleicher
Weise nicht wiederholenden Anblick. Es war unter den eigenthümlichsten Ge¬
fühlen, daß ich mir mit Schulter und Faust, unterstützt von Mattia's -- so
hieß mein Dragoman -- gewaltiger Stimme, einen Weg durch die schwerfällige
Menge bahnte, welche theils heilsbcdürftig der großen Grabeskirche zuströmte,
theils schon befriedigt von da zurückkehrte.

Es zeigte sich bald, daß ich mir zu der Anwerbung des Mattia Glück wün¬
schen konnte; er wußte mir, worauf ich hohen Werth legte, die Herkunft aller
dieser von Nah und Fern zusammengeströmten Menschen anzugeben; die meisten
begrüßte er gar in ihrem heimatlichen Idiom mit den unter den Umständen
so wohl zu verwerthenden Worten-. "Fort! Platz!" das Verständniß freilich oft
noch durch schwer mißzudeutende Geberden erleichternd. Nicht ohne Mühe
brachte er mich so an die offne Ladenwerkstatt eines ihm cmverwandten beth-
lehemitischen Pcrlmutterarbeiters, welcher uns einlud, bei ihm Platz zu nehmen.
So lange nämlich Jerusalem von Pilgern bevölkert wird, d. h. ungefähr vom
December bis zum April, ist die Christenstraße die vornehmste Geschäftsgegend
der Stadt, und verhältnißmäßig glänzend ausgestattete Verkaufslocale fassen
sie dann von beiden Seiten ein. Ich nahm den Vorschlag gern an und genoß
nunmehr eine Weile von dem erhöhten Standpunkte der Ladenbank vollstän¬
diger und bequemer den Anblick der mannigfaltigen Gruppen, welche anG^s
vorüberzogen. ,

In den bunten Massen von svnnegebräuntcn Inselgriechen mit laugen?,'
cokctt auf den Hinterkopf zurückgeschlagenen Ta.rbusch, von stämnngzn" Ana-
tolicrn in reicher, mit goldgestickten Arabesken verzierter Jacke, von Bethle-
hemiten und andern einheimischen Christen in langen schnrlachrotlM Röcken
und wunderlich gestreiften Kameelhaarmänteln, von schlanken, lo weißen Frieß
gekleideten Albanesen, von schwerfälligen, in Pelz gehüllten Bulgaren M von
georgischen Knukasiern, die mit ihrer Schaffellkopfbedeckung und dem dunkeln zotti¬
gen Filzmantel fast den Eindruck einer wandelnden Jurte machen, Armeniern aus
allen Theilen der Türkei mit allen provinciellen Verschiedenheiten der oriental-


seiner Heimat waren ebenso belehrend als anregend. Um das russische Volk
grade in seiner Beziehung zu Jerusalem kennen zu lernen, hatte ich als Reise-
vorbcrcitung das Buch der Gräfin Bagrecf-Spcranski, 1s ?vlöiin Kusse, durch-
gelesen, dasselbe aber so idealisirt, so der Wirklichkeit entfremdet gesunden, daß
mir nicht einmal Zweifel an der Thatsache der russischen Pilgerfahrten dadurch
widerlegt schienen. Doppelt interessant war mirs nunmehr, nicht mit Helden
und Heldinnen unbekannter Zeiten, wie die gedachte Schriftstellerin sie dem
Publikum vorführt, sondern mit wirklichen wallfahrenden Mujiks auf der
Christenstraße zuftunmcnzutrcffen.

Seltsam genug war die Scene dieser ersten Begegnung; — gewiß bietet
die Christenstraße Jerusalems in der Osterzeit einen sich auf Erden in gleicher
Weise nicht wiederholenden Anblick. Es war unter den eigenthümlichsten Ge¬
fühlen, daß ich mir mit Schulter und Faust, unterstützt von Mattia's — so
hieß mein Dragoman — gewaltiger Stimme, einen Weg durch die schwerfällige
Menge bahnte, welche theils heilsbcdürftig der großen Grabeskirche zuströmte,
theils schon befriedigt von da zurückkehrte.

Es zeigte sich bald, daß ich mir zu der Anwerbung des Mattia Glück wün¬
schen konnte; er wußte mir, worauf ich hohen Werth legte, die Herkunft aller
dieser von Nah und Fern zusammengeströmten Menschen anzugeben; die meisten
begrüßte er gar in ihrem heimatlichen Idiom mit den unter den Umständen
so wohl zu verwerthenden Worten-. „Fort! Platz!" das Verständniß freilich oft
noch durch schwer mißzudeutende Geberden erleichternd. Nicht ohne Mühe
brachte er mich so an die offne Ladenwerkstatt eines ihm cmverwandten beth-
lehemitischen Pcrlmutterarbeiters, welcher uns einlud, bei ihm Platz zu nehmen.
So lange nämlich Jerusalem von Pilgern bevölkert wird, d. h. ungefähr vom
December bis zum April, ist die Christenstraße die vornehmste Geschäftsgegend
der Stadt, und verhältnißmäßig glänzend ausgestattete Verkaufslocale fassen
sie dann von beiden Seiten ein. Ich nahm den Vorschlag gern an und genoß
nunmehr eine Weile von dem erhöhten Standpunkte der Ladenbank vollstän¬
diger und bequemer den Anblick der mannigfaltigen Gruppen, welche anG^s
vorüberzogen. ,

In den bunten Massen von svnnegebräuntcn Inselgriechen mit laugen?,'
cokctt auf den Hinterkopf zurückgeschlagenen Ta.rbusch, von stämnngzn» Ana-
tolicrn in reicher, mit goldgestickten Arabesken verzierter Jacke, von Bethle-
hemiten und andern einheimischen Christen in langen schnrlachrotlM Röcken
und wunderlich gestreiften Kameelhaarmänteln, von schlanken, lo weißen Frieß
gekleideten Albanesen, von schwerfälligen, in Pelz gehüllten Bulgaren M von
georgischen Knukasiern, die mit ihrer Schaffellkopfbedeckung und dem dunkeln zotti¬
gen Filzmantel fast den Eindruck einer wandelnden Jurte machen, Armeniern aus
allen Theilen der Türkei mit allen provinciellen Verschiedenheiten der oriental-


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[0254] seiner Heimat waren ebenso belehrend als anregend. Um das russische Volk grade in seiner Beziehung zu Jerusalem kennen zu lernen, hatte ich als Reise- vorbcrcitung das Buch der Gräfin Bagrecf-Spcranski, 1s ?vlöiin Kusse, durch- gelesen, dasselbe aber so idealisirt, so der Wirklichkeit entfremdet gesunden, daß mir nicht einmal Zweifel an der Thatsache der russischen Pilgerfahrten dadurch widerlegt schienen. Doppelt interessant war mirs nunmehr, nicht mit Helden und Heldinnen unbekannter Zeiten, wie die gedachte Schriftstellerin sie dem Publikum vorführt, sondern mit wirklichen wallfahrenden Mujiks auf der Christenstraße zuftunmcnzutrcffen. Seltsam genug war die Scene dieser ersten Begegnung; — gewiß bietet die Christenstraße Jerusalems in der Osterzeit einen sich auf Erden in gleicher Weise nicht wiederholenden Anblick. Es war unter den eigenthümlichsten Ge¬ fühlen, daß ich mir mit Schulter und Faust, unterstützt von Mattia's — so hieß mein Dragoman — gewaltiger Stimme, einen Weg durch die schwerfällige Menge bahnte, welche theils heilsbcdürftig der großen Grabeskirche zuströmte, theils schon befriedigt von da zurückkehrte. Es zeigte sich bald, daß ich mir zu der Anwerbung des Mattia Glück wün¬ schen konnte; er wußte mir, worauf ich hohen Werth legte, die Herkunft aller dieser von Nah und Fern zusammengeströmten Menschen anzugeben; die meisten begrüßte er gar in ihrem heimatlichen Idiom mit den unter den Umständen so wohl zu verwerthenden Worten-. „Fort! Platz!" das Verständniß freilich oft noch durch schwer mißzudeutende Geberden erleichternd. Nicht ohne Mühe brachte er mich so an die offne Ladenwerkstatt eines ihm cmverwandten beth- lehemitischen Pcrlmutterarbeiters, welcher uns einlud, bei ihm Platz zu nehmen. So lange nämlich Jerusalem von Pilgern bevölkert wird, d. h. ungefähr vom December bis zum April, ist die Christenstraße die vornehmste Geschäftsgegend der Stadt, und verhältnißmäßig glänzend ausgestattete Verkaufslocale fassen sie dann von beiden Seiten ein. Ich nahm den Vorschlag gern an und genoß nunmehr eine Weile von dem erhöhten Standpunkte der Ladenbank vollstän¬ diger und bequemer den Anblick der mannigfaltigen Gruppen, welche anG^s vorüberzogen. , In den bunten Massen von svnnegebräuntcn Inselgriechen mit laugen?,' cokctt auf den Hinterkopf zurückgeschlagenen Ta.rbusch, von stämnngzn» Ana- tolicrn in reicher, mit goldgestickten Arabesken verzierter Jacke, von Bethle- hemiten und andern einheimischen Christen in langen schnrlachrotlM Röcken und wunderlich gestreiften Kameelhaarmänteln, von schlanken, lo weißen Frieß gekleideten Albanesen, von schwerfälligen, in Pelz gehüllten Bulgaren M von georgischen Knukasiern, die mit ihrer Schaffellkopfbedeckung und dem dunkeln zotti¬ gen Filzmantel fast den Eindruck einer wandelnden Jurte machen, Armeniern aus allen Theilen der Türkei mit allen provinciellen Verschiedenheiten der oriental-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/254>, abgerufen am 24.07.2024.