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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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so wenig wir über die "neue Aera" sanguinisch denken, ist die Ausgleichung
zwischen Krone und Volk uns dem besten Wege. Undankbarer ist die Aufgabe
sür den Nichtpreußcn, wenn er dieselbe darauf beschränkt, auf Preußen ein¬
wirken zu wollen; mit Denkschriften, Adressen u. s. w. ist wenig gethan, und
nur zu bald sieht er sich in die Rolle des müssiger Zuschauers versetzt, der.
was in Preußen geschieht, bald lobend bald tadelnd kritisirt -- mit andern
Worten, in die Rolle des politischen Zinngicßers.

Glücklicherweise ist die Aufgabe weiter.

Einmal gilt es, in die Partei Disciplin zu bringen. In Deutschland
ist das besonders nöthig. In politischen Dingen darf nicht jeder Einzelne ein
productives Genie sein, seine Subjectivität für den Mittelpunkt Europas be¬
trachten wollen. Wer frei werden will, muß sich fügen lernen. Freiheit und
Kräftigung des Einzelnen durch ein starkes Ganze, das. und nicht die Herrschaft
einer bestimmten Cocarde. ist der letzte und höchste Zweck des Liberalismus.
Die Einsicht muß sich aber verbreiten , daß man diesen Zweck nicht erreicht,
wenn man heute dies und morgen jenes Mittel anwendet, wie ein ungedul¬
diges Kind: daß mau heute, wenn Hr. von Schleinitz eine gute Note schreibt,
auf morgen die Befreiung Deutschlands durch Preußen erwartet, und morgen,
wenn er eine schlechte schreibt. Preußen sür einen verbrauchten Staat ansieht.
Wir bauen nicht auf Schleinitz. nicht auf Vincke. auf keinen Einzelnen: wir
bauen auf die Natur des preußischen Staats, der Kraft und Leben genug
hat. um, wenn ihn einmal der Geist ergreift, durchzuführen, was nöthig ist.
Er ist der einzige Staat in Deutschland, der es kann: bel den andern würde
auch der Geist nichts helfen. Der Geist ist eine productive Kraft, die man
nicht willkürlich herbeiführen kann; sein Kommen wird aber beschleunigt, wenn
innerhalb und außerhalb Preußens dieser Gedanke sich zum herrschenden macht.
Ist der Gedanke herrschend, so ist die Zeit reif, und der Geist wird kommen:
d, h. die vollständige und erkannte Nothwendigkeit der Zustände wird die That
herbeiführen.

Zweitens aber gilt es. auch außerhalb Preußens sich zu rühren. Die große
Politik gehört gewissermaßen für die Feiertage; die Werkeltagsarbeit ist ebenso
wichtig. Die Unthätigkeit der liberalen Partei in den letzten Jahren hat bit¬
tere Früchte getragen, und die reaktionärsten Regierungen Deutschlands können
sich formell mit gutem Recht für constitutionell ausgeben, denn sie stützen sich
auf die Majorität der Landtage. Dies Verhältniß zu ändern, ist die erste und
wichtigste Aufgabe der liberalen Partei. Jede politische Entwicklung, die
Dauer verheißt, geschieht Schritt sür Schritt; der nächste Schritt, den wir zu
thun haben, ist. in sämmtlichen Kammern Deutschlands die Majorität zu ge¬
winnen. Das wird nicht heute, nicht morgen geschehn; auch Rom ward nicht
an einem Tage gebaut; aber geschehn muß es, wenn wir uns als ein lebens-


so wenig wir über die „neue Aera" sanguinisch denken, ist die Ausgleichung
zwischen Krone und Volk uns dem besten Wege. Undankbarer ist die Aufgabe
sür den Nichtpreußcn, wenn er dieselbe darauf beschränkt, auf Preußen ein¬
wirken zu wollen; mit Denkschriften, Adressen u. s. w. ist wenig gethan, und
nur zu bald sieht er sich in die Rolle des müssiger Zuschauers versetzt, der.
was in Preußen geschieht, bald lobend bald tadelnd kritisirt — mit andern
Worten, in die Rolle des politischen Zinngicßers.

Glücklicherweise ist die Aufgabe weiter.

Einmal gilt es, in die Partei Disciplin zu bringen. In Deutschland
ist das besonders nöthig. In politischen Dingen darf nicht jeder Einzelne ein
productives Genie sein, seine Subjectivität für den Mittelpunkt Europas be¬
trachten wollen. Wer frei werden will, muß sich fügen lernen. Freiheit und
Kräftigung des Einzelnen durch ein starkes Ganze, das. und nicht die Herrschaft
einer bestimmten Cocarde. ist der letzte und höchste Zweck des Liberalismus.
Die Einsicht muß sich aber verbreiten , daß man diesen Zweck nicht erreicht,
wenn man heute dies und morgen jenes Mittel anwendet, wie ein ungedul¬
diges Kind: daß mau heute, wenn Hr. von Schleinitz eine gute Note schreibt,
auf morgen die Befreiung Deutschlands durch Preußen erwartet, und morgen,
wenn er eine schlechte schreibt. Preußen sür einen verbrauchten Staat ansieht.
Wir bauen nicht auf Schleinitz. nicht auf Vincke. auf keinen Einzelnen: wir
bauen auf die Natur des preußischen Staats, der Kraft und Leben genug
hat. um, wenn ihn einmal der Geist ergreift, durchzuführen, was nöthig ist.
Er ist der einzige Staat in Deutschland, der es kann: bel den andern würde
auch der Geist nichts helfen. Der Geist ist eine productive Kraft, die man
nicht willkürlich herbeiführen kann; sein Kommen wird aber beschleunigt, wenn
innerhalb und außerhalb Preußens dieser Gedanke sich zum herrschenden macht.
Ist der Gedanke herrschend, so ist die Zeit reif, und der Geist wird kommen:
d, h. die vollständige und erkannte Nothwendigkeit der Zustände wird die That
herbeiführen.

Zweitens aber gilt es. auch außerhalb Preußens sich zu rühren. Die große
Politik gehört gewissermaßen für die Feiertage; die Werkeltagsarbeit ist ebenso
wichtig. Die Unthätigkeit der liberalen Partei in den letzten Jahren hat bit¬
tere Früchte getragen, und die reaktionärsten Regierungen Deutschlands können
sich formell mit gutem Recht für constitutionell ausgeben, denn sie stützen sich
auf die Majorität der Landtage. Dies Verhältniß zu ändern, ist die erste und
wichtigste Aufgabe der liberalen Partei. Jede politische Entwicklung, die
Dauer verheißt, geschieht Schritt sür Schritt; der nächste Schritt, den wir zu
thun haben, ist. in sämmtlichen Kammern Deutschlands die Majorität zu ge¬
winnen. Das wird nicht heute, nicht morgen geschehn; auch Rom ward nicht
an einem Tage gebaut; aber geschehn muß es, wenn wir uns als ein lebens-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/136>, abgerufen am 25.07.2024.