Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.wenn sie fortfährt sich in dieser mondschcinartigen Weise auszudrücken, Daß unsere Dichter zu den antiken Stoffen zurückgreifen, ist sehr natür¬ Noch einmal also, wenn der junge Dichter sein Talent zu einer wirklichen wenn sie fortfährt sich in dieser mondschcinartigen Weise auszudrücken, Daß unsere Dichter zu den antiken Stoffen zurückgreifen, ist sehr natür¬ Noch einmal also, wenn der junge Dichter sein Talent zu einer wirklichen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0086" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108808"/> <lg xml:id="POEMID_1" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_252" prev="#ID_251"> wenn sie fortfährt sich in dieser mondschcinartigen Weise auszudrücken,<lb/> wenn sie z. B. die Bemerkung macht, daß ein Frauenherz leichter bricht als<lb/> Stein, weil es von zarterem Stoff gemacht ist; wenn Agamemnon ihr in die¬<lb/> ser Weise treulich zur Seite steht und auch Kassandra sie unterstützt: so be¬<lb/> greift man nicht, wie der Dichter zu jenem wilden entsetzlichen Stoff gekom¬<lb/> men ist, der sich aus Aeschvlus in blutigen unauslöschlichen Zügen in unsere<lb/> Phantasie eingegraben hat. Zu solchen Fabeln gehören in der That Herzen<lb/> von der Stärke, wenn auch nicht von der Unbeweglichkeit eines Steins. Der<lb/> Dichter hat denn auch die Fabel in manchen wesentlichen Punkten verändert.<lb/> Klytämnestra ist dem Agamemnon nicht eigentlich untreu gewesen, sie hat sich<lb/> mit Aegist erst verheirathet, nachdem ihr die von dem letztern fälschlich auf¬<lb/> gesprengte Nachricht von dem Tode Agamenmons zugekommen war. Da sie<lb/> also ihren Gemahl gar nicht haßt, ist unter den verschiedenen Motiven ihrer<lb/> Unthat die Furcht vor der Entdeckung das einzige Positive. Noch seltsamer<lb/> ist die Wendung des Schlusses, welcher die moralische Ausgleichung enthal¬<lb/> ten soll. Klytämnestra erfährt nnmlich, daß Aegist sie nicht aus Liebe, son¬<lb/> dern aus Haß gegen Agamemnon geheirathet hat. Diese echt moderne Wen¬<lb/> dung müßte den Griechen, denen es nur auf die Sache ankam, nicht auf die<lb/> Motive, unverständlich sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_253"> Daß unsere Dichter zu den antiken Stoffen zurückgreifen, ist sehr natür¬<lb/> lich, denn diese Stosse sind meistens für die dramatische Bearbeitung besser<lb/> vorbereitet und nicht so durch eine wüste Masse von Nebensachen verkümmert<lb/> wie die mittelalterlichen Stoffe und namentlich wie die Geschichte der Hohen-<lb/> staufen; aber es ist sehr schwer sich in den Geist jener Stoffe zu versetzen und<lb/> dabei doch diejenige Seite herauszufinden, die mit unserm eigenen Gefühl<lb/> correspondirt. Wenn Goethe den nämlichen Stoff durch die moderne christ¬<lb/> lich-deutsche Gefühlsweise abrundete, so konnte er es darum, weil er sich auf<lb/> die Sühne beschränkte, während die wilde Unthat selbst ganz im Hintergrunde<lb/> bleibt. Die Sühne hat er als christlicher Dichter besser gefunden als Aeschy-<lb/> lus, bei dem der Ausgang der Tragödie nicht nur in religiöser, sondern anch<lb/> in künstlerischer Beziehung als verfehlt erscheint. Aber um das Verbrechen<lb/> zu schildern ohne es zu einer gemeinen Criminalgeschichte herabsinken zu las¬<lb/> sen, dazu gehören die alten Stahlnerven der Griechen.</p><lb/> <p xml:id="ID_254"> Noch einmal also, wenn der junge Dichter sein Talent zu einer wirklichen<lb/> Kunstleistung entwickeln will, so darf er sich nicht aufmodernisirte Reproduk¬<lb/> tionen früherer Dichterwerke einlassen, sondern er muß einen Stoff auffinden,<lb/> der sein eigenes ganzes Leben bewegt und erschüttert.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0086]
wenn sie fortfährt sich in dieser mondschcinartigen Weise auszudrücken,
wenn sie z. B. die Bemerkung macht, daß ein Frauenherz leichter bricht als
Stein, weil es von zarterem Stoff gemacht ist; wenn Agamemnon ihr in die¬
ser Weise treulich zur Seite steht und auch Kassandra sie unterstützt: so be¬
greift man nicht, wie der Dichter zu jenem wilden entsetzlichen Stoff gekom¬
men ist, der sich aus Aeschvlus in blutigen unauslöschlichen Zügen in unsere
Phantasie eingegraben hat. Zu solchen Fabeln gehören in der That Herzen
von der Stärke, wenn auch nicht von der Unbeweglichkeit eines Steins. Der
Dichter hat denn auch die Fabel in manchen wesentlichen Punkten verändert.
Klytämnestra ist dem Agamemnon nicht eigentlich untreu gewesen, sie hat sich
mit Aegist erst verheirathet, nachdem ihr die von dem letztern fälschlich auf¬
gesprengte Nachricht von dem Tode Agamenmons zugekommen war. Da sie
also ihren Gemahl gar nicht haßt, ist unter den verschiedenen Motiven ihrer
Unthat die Furcht vor der Entdeckung das einzige Positive. Noch seltsamer
ist die Wendung des Schlusses, welcher die moralische Ausgleichung enthal¬
ten soll. Klytämnestra erfährt nnmlich, daß Aegist sie nicht aus Liebe, son¬
dern aus Haß gegen Agamemnon geheirathet hat. Diese echt moderne Wen¬
dung müßte den Griechen, denen es nur auf die Sache ankam, nicht auf die
Motive, unverständlich sein.
Daß unsere Dichter zu den antiken Stoffen zurückgreifen, ist sehr natür¬
lich, denn diese Stosse sind meistens für die dramatische Bearbeitung besser
vorbereitet und nicht so durch eine wüste Masse von Nebensachen verkümmert
wie die mittelalterlichen Stoffe und namentlich wie die Geschichte der Hohen-
staufen; aber es ist sehr schwer sich in den Geist jener Stoffe zu versetzen und
dabei doch diejenige Seite herauszufinden, die mit unserm eigenen Gefühl
correspondirt. Wenn Goethe den nämlichen Stoff durch die moderne christ¬
lich-deutsche Gefühlsweise abrundete, so konnte er es darum, weil er sich auf
die Sühne beschränkte, während die wilde Unthat selbst ganz im Hintergrunde
bleibt. Die Sühne hat er als christlicher Dichter besser gefunden als Aeschy-
lus, bei dem der Ausgang der Tragödie nicht nur in religiöser, sondern anch
in künstlerischer Beziehung als verfehlt erscheint. Aber um das Verbrechen
zu schildern ohne es zu einer gemeinen Criminalgeschichte herabsinken zu las¬
sen, dazu gehören die alten Stahlnerven der Griechen.
Noch einmal also, wenn der junge Dichter sein Talent zu einer wirklichen
Kunstleistung entwickeln will, so darf er sich nicht aufmodernisirte Reproduk¬
tionen früherer Dichterwerke einlassen, sondern er muß einen Stoff auffinden,
der sein eigenes ganzes Leben bewegt und erschüttert.
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