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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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für die Geschichte zu entdecken, was er entdeckt hat, mußte er gerade so und
nicht anders organisirt sein. --

Wir suhlen lebhaft das dürftige dieser Bemerkungen; allein bei der Be¬
trachtung so mächtiger und umfassender Geister hat jeder Einzelne den Trieb
sich über diejenigen Seiten ihres Wesens auszusprechen, die ihm grade zufällig
nahe liegen. -- Wir wenden uns zu einigen neuen poetischen Erscheinungen.

Eduard Tempeltey hat vor einigen Jahren durch seine Klytämnestra
(Berlin, Schröder) an mehreren Theatern einen günstigen Eindruck gemacht;
im Lauf dieses Jahrs hat er ein neues diesmal vaterländisches Drama
"Hie Wels, hie Waldungen!" und einen Liederkranz "Mariengarn" (Leipzig,
Herbig) darauf folgen lassen. Der erste Einblick in seine Schriften lehrt, daß
sein eigentliches ursprüngliches Talent ein lyrisches ist. Im Mariengarn zeigt
sich zwar nirgends die Spur einer großen überwältigenden Leidenschaft, eines
mächtig ergreifenden Gedankens, aber überall ein zartes inniges Gemüth und,
was hauptsächlich den Lyriker macht, ein Sinn für Wohlklang, Rhythmus und
Melodie, der sich fast in keiner Zeile verleugnet. Wir können nicht voraus¬
sehen, ob der junge Dichter sich einen Beifall erwerben wird wie Emanuel
Geibel, da in solchen Dingen der Zufall eine große Rolle spielt; aber mit ihm
stellen wir ihn ungefähr auf eine Reihe und möchten sogar, was den Wohl-
klang der Sprache und den Rhythmus der Empfindungen betrifft, dem jungem
Dichter den Borzug geben. -- Als Dramatiker haben wir über ihn noch kein
rechtes Urtheil; zwar zeigt er in beiden Stücken Sinn für samische Ordnung
und Wirksamkeit und den lobenswerthen Eifer, bei starken Conflicten die Seelen-
bewegungcn der Betheiligten im Detail zu verfolgen. So ist z. B. im zweiten
Stück, das schon darum ungleich schwächer ist als das erste, weil es unnöthig
in die Breite geht und in der Composition des Ganzen nicht die geringste
Nothwendigkeit entwickelt, die Art und Weise, wie Heinrich der Löwe seinen
Abfall vor sich selbst zu motiviren sucht, eine sehr interessante psycholo¬
gische Studie, die eine einsichtsvolle Lectüre Shakespeares verräth. Doch
zeigt sich in beiden Stücken noch zu sehr der Lyriker, der über die Figuren
reflectirt, statt sie in lebendiger Wirklichkeit einzuführen, und die dramatische
Empfindung wird nicht selten in Sentimentalität erstickt. Der junge Dichter
ist um so mehr zu warnen, da er es bei seinem großen Formtalent in die¬
ser Gattung leicht zur Virtuosität bringen könnte, wo dann die Umkehr immer
schwerer wird. Wenn er im Drama etwas leisten will, so muß er damit an¬
fangen, einen Stoff zu bearbeiten, der wirklich in seinem Innern lebt, er
muß Realist sein, bevor er idealisirt. Die Klytämnestra ist in vieler Beziehung
ein merkwürdiges Stück; gar nicht ungeschickt gemacht, reich an poetischen
Stellen, auch mit einigen wirksamen Scenen ausgestattet; aber wenn Klytä¬
mnestra gleich im ersten Austritt sagt:


Grenzboten I. 1L60. 10

für die Geschichte zu entdecken, was er entdeckt hat, mußte er gerade so und
nicht anders organisirt sein. —

Wir suhlen lebhaft das dürftige dieser Bemerkungen; allein bei der Be¬
trachtung so mächtiger und umfassender Geister hat jeder Einzelne den Trieb
sich über diejenigen Seiten ihres Wesens auszusprechen, die ihm grade zufällig
nahe liegen. — Wir wenden uns zu einigen neuen poetischen Erscheinungen.

Eduard Tempeltey hat vor einigen Jahren durch seine Klytämnestra
(Berlin, Schröder) an mehreren Theatern einen günstigen Eindruck gemacht;
im Lauf dieses Jahrs hat er ein neues diesmal vaterländisches Drama
„Hie Wels, hie Waldungen!" und einen Liederkranz „Mariengarn" (Leipzig,
Herbig) darauf folgen lassen. Der erste Einblick in seine Schriften lehrt, daß
sein eigentliches ursprüngliches Talent ein lyrisches ist. Im Mariengarn zeigt
sich zwar nirgends die Spur einer großen überwältigenden Leidenschaft, eines
mächtig ergreifenden Gedankens, aber überall ein zartes inniges Gemüth und,
was hauptsächlich den Lyriker macht, ein Sinn für Wohlklang, Rhythmus und
Melodie, der sich fast in keiner Zeile verleugnet. Wir können nicht voraus¬
sehen, ob der junge Dichter sich einen Beifall erwerben wird wie Emanuel
Geibel, da in solchen Dingen der Zufall eine große Rolle spielt; aber mit ihm
stellen wir ihn ungefähr auf eine Reihe und möchten sogar, was den Wohl-
klang der Sprache und den Rhythmus der Empfindungen betrifft, dem jungem
Dichter den Borzug geben. — Als Dramatiker haben wir über ihn noch kein
rechtes Urtheil; zwar zeigt er in beiden Stücken Sinn für samische Ordnung
und Wirksamkeit und den lobenswerthen Eifer, bei starken Conflicten die Seelen-
bewegungcn der Betheiligten im Detail zu verfolgen. So ist z. B. im zweiten
Stück, das schon darum ungleich schwächer ist als das erste, weil es unnöthig
in die Breite geht und in der Composition des Ganzen nicht die geringste
Nothwendigkeit entwickelt, die Art und Weise, wie Heinrich der Löwe seinen
Abfall vor sich selbst zu motiviren sucht, eine sehr interessante psycholo¬
gische Studie, die eine einsichtsvolle Lectüre Shakespeares verräth. Doch
zeigt sich in beiden Stücken noch zu sehr der Lyriker, der über die Figuren
reflectirt, statt sie in lebendiger Wirklichkeit einzuführen, und die dramatische
Empfindung wird nicht selten in Sentimentalität erstickt. Der junge Dichter
ist um so mehr zu warnen, da er es bei seinem großen Formtalent in die¬
ser Gattung leicht zur Virtuosität bringen könnte, wo dann die Umkehr immer
schwerer wird. Wenn er im Drama etwas leisten will, so muß er damit an¬
fangen, einen Stoff zu bearbeiten, der wirklich in seinem Innern lebt, er
muß Realist sein, bevor er idealisirt. Die Klytämnestra ist in vieler Beziehung
ein merkwürdiges Stück; gar nicht ungeschickt gemacht, reich an poetischen
Stellen, auch mit einigen wirksamen Scenen ausgestattet; aber wenn Klytä¬
mnestra gleich im ersten Austritt sagt:


Grenzboten I. 1L60. 10
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[0085] für die Geschichte zu entdecken, was er entdeckt hat, mußte er gerade so und nicht anders organisirt sein. — Wir suhlen lebhaft das dürftige dieser Bemerkungen; allein bei der Be¬ trachtung so mächtiger und umfassender Geister hat jeder Einzelne den Trieb sich über diejenigen Seiten ihres Wesens auszusprechen, die ihm grade zufällig nahe liegen. — Wir wenden uns zu einigen neuen poetischen Erscheinungen. Eduard Tempeltey hat vor einigen Jahren durch seine Klytämnestra (Berlin, Schröder) an mehreren Theatern einen günstigen Eindruck gemacht; im Lauf dieses Jahrs hat er ein neues diesmal vaterländisches Drama „Hie Wels, hie Waldungen!" und einen Liederkranz „Mariengarn" (Leipzig, Herbig) darauf folgen lassen. Der erste Einblick in seine Schriften lehrt, daß sein eigentliches ursprüngliches Talent ein lyrisches ist. Im Mariengarn zeigt sich zwar nirgends die Spur einer großen überwältigenden Leidenschaft, eines mächtig ergreifenden Gedankens, aber überall ein zartes inniges Gemüth und, was hauptsächlich den Lyriker macht, ein Sinn für Wohlklang, Rhythmus und Melodie, der sich fast in keiner Zeile verleugnet. Wir können nicht voraus¬ sehen, ob der junge Dichter sich einen Beifall erwerben wird wie Emanuel Geibel, da in solchen Dingen der Zufall eine große Rolle spielt; aber mit ihm stellen wir ihn ungefähr auf eine Reihe und möchten sogar, was den Wohl- klang der Sprache und den Rhythmus der Empfindungen betrifft, dem jungem Dichter den Borzug geben. — Als Dramatiker haben wir über ihn noch kein rechtes Urtheil; zwar zeigt er in beiden Stücken Sinn für samische Ordnung und Wirksamkeit und den lobenswerthen Eifer, bei starken Conflicten die Seelen- bewegungcn der Betheiligten im Detail zu verfolgen. So ist z. B. im zweiten Stück, das schon darum ungleich schwächer ist als das erste, weil es unnöthig in die Breite geht und in der Composition des Ganzen nicht die geringste Nothwendigkeit entwickelt, die Art und Weise, wie Heinrich der Löwe seinen Abfall vor sich selbst zu motiviren sucht, eine sehr interessante psycholo¬ gische Studie, die eine einsichtsvolle Lectüre Shakespeares verräth. Doch zeigt sich in beiden Stücken noch zu sehr der Lyriker, der über die Figuren reflectirt, statt sie in lebendiger Wirklichkeit einzuführen, und die dramatische Empfindung wird nicht selten in Sentimentalität erstickt. Der junge Dichter ist um so mehr zu warnen, da er es bei seinem großen Formtalent in die¬ ser Gattung leicht zur Virtuosität bringen könnte, wo dann die Umkehr immer schwerer wird. Wenn er im Drama etwas leisten will, so muß er damit an¬ fangen, einen Stoff zu bearbeiten, der wirklich in seinem Innern lebt, er muß Realist sein, bevor er idealisirt. Die Klytämnestra ist in vieler Beziehung ein merkwürdiges Stück; gar nicht ungeschickt gemacht, reich an poetischen Stellen, auch mit einigen wirksamen Scenen ausgestattet; aber wenn Klytä¬ mnestra gleich im ersten Austritt sagt: Grenzboten I. 1L60. 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/85>, abgerufen am 23.07.2024.