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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Buchstabe nicht der Geist, die Bibel mit ihrer Geschichte nicht die Religion.
HerrR, dagegen urtheilt, die christliche Religion, d.h. diejenige, welche Jesum
als einen, der mehr als Mensch gewesen, zum Gegenstande der Verehrung macht,
stehe und falle mit der Geschichte, die uns die Bibel von ihm erzählt; man könne
Jesum unmöglich als den göttlichen Erlöser verehren, ohne die Geschichte
seines Erdenlebens für wahr zu halten (S. 177.).

Und wie glaubt er nun diese Geschichte gegen die Angriffe der Kritik,
die Bemühungen der Nachfolger des Reimarus, mit mehr Erfolg als Göze
vertheidigen zu können? Dieser schrieb einmal, "das innere Zeugniß des
heiligen Geistes, welches sich durch die Kunde der heil. Schrift an den Seelen
derer offenbart, welche der Wahrheit nicht muthwillig widerstreben, müsse die
Ehre behaupten, unser Herz in der Wahrheit festzuhalten." Mit diesen Worten,
urtheilt Herr R., sei alles gesagt gewesen, was zu sagen Noth that, und Göze
hätte sich von diesem Standpunkte durch Lessings Winkelzüge nicht sollen weg¬
locken lassen (S. 192), Das muß er uns aber noch deutlicher sagen/ wenn
wir es verstehen sollen. "Das Hauptwunder," läßt er sich an einer andern
Stelle vernehmen, "das allein Beweiskraft hat, ist das von der sittlichen Er¬
neuerung des sündigen Menschen" (S. 169). Beweiskraft hat, wofür? Der
Standpunkt der neueren Theologie, so lost uns der Vers, das Räthsel, sei
"der Schluß von dem noch jetzt fortdauernden Wunder der Religion aus dle
Wahrheit der Wunder, die bei ihrer ersten Gründung geschehen sein sollen"
(S. 187 und 279), Das nennen nur wir Andern einen Cirkel im Beweis;
denn wer beweist, daß die christliche Religion, wie sie jetzt besteht, und ins¬
besondere die "sittliche Erneuerung des sündigen Menschen", ein Wunder, und
nicht vielmehr jene ein natürliches geschichtliches Erzeugniß, diese ein ebenso
natürlicher psychologischer Proceß ist? Also weil es jetzt (einfach und ohne
theologischen Krimskrams gesprochen) rechtschaffene Christen gibt, soll es wahr
sein, daß Christus bei Jericho zwei Blinde geheilt, zu Kana Wasser in Wein
verwandelt habe? Da ist es in der That Zeit, bald besondere Lehrstühle für
christliche Logik zu errichten; denn unsere bisherige heidnische läßt dergleichen
Schlüsse nicht passiren. Eine bequeme Sache wäre es freilich um solchen
Uuiversalbeweis, wenn es nur nicht zugleich die allersinnloseste Sache darum
wäre. Sinnlos? Herr R. ist vielmehr "überzeugt, hätte Lessing diese in der
Theologie unseres Jahrhunderts immer mehr zur Anerkennung kommende Ein¬
sicht gehabt, so wären ihm die Angriffe des Ungenannten, so weit sie die
Schrift betrafen, lächerlich, so weit den Herrn und seine Apostel, lästerlich er¬
schienen" (S. 223). Die Einsicht, die Lessing gefehlt, bestimmt Herrn R. dies¬
mal näher als die Erkenntniß, daß das Christenthum ein causales Princip,
ein in die Menschheit in den Tagen Jesu gepflanzter Baum sei, der immer
noch fortlebe und treibe und aus dessen noch heute reisenden Wunderfrüchten


Buchstabe nicht der Geist, die Bibel mit ihrer Geschichte nicht die Religion.
HerrR, dagegen urtheilt, die christliche Religion, d.h. diejenige, welche Jesum
als einen, der mehr als Mensch gewesen, zum Gegenstande der Verehrung macht,
stehe und falle mit der Geschichte, die uns die Bibel von ihm erzählt; man könne
Jesum unmöglich als den göttlichen Erlöser verehren, ohne die Geschichte
seines Erdenlebens für wahr zu halten (S. 177.).

Und wie glaubt er nun diese Geschichte gegen die Angriffe der Kritik,
die Bemühungen der Nachfolger des Reimarus, mit mehr Erfolg als Göze
vertheidigen zu können? Dieser schrieb einmal, „das innere Zeugniß des
heiligen Geistes, welches sich durch die Kunde der heil. Schrift an den Seelen
derer offenbart, welche der Wahrheit nicht muthwillig widerstreben, müsse die
Ehre behaupten, unser Herz in der Wahrheit festzuhalten." Mit diesen Worten,
urtheilt Herr R., sei alles gesagt gewesen, was zu sagen Noth that, und Göze
hätte sich von diesem Standpunkte durch Lessings Winkelzüge nicht sollen weg¬
locken lassen (S. 192), Das muß er uns aber noch deutlicher sagen/ wenn
wir es verstehen sollen. „Das Hauptwunder," läßt er sich an einer andern
Stelle vernehmen, „das allein Beweiskraft hat, ist das von der sittlichen Er¬
neuerung des sündigen Menschen" (S. 169). Beweiskraft hat, wofür? Der
Standpunkt der neueren Theologie, so lost uns der Vers, das Räthsel, sei
„der Schluß von dem noch jetzt fortdauernden Wunder der Religion aus dle
Wahrheit der Wunder, die bei ihrer ersten Gründung geschehen sein sollen"
(S. 187 und 279), Das nennen nur wir Andern einen Cirkel im Beweis;
denn wer beweist, daß die christliche Religion, wie sie jetzt besteht, und ins¬
besondere die „sittliche Erneuerung des sündigen Menschen", ein Wunder, und
nicht vielmehr jene ein natürliches geschichtliches Erzeugniß, diese ein ebenso
natürlicher psychologischer Proceß ist? Also weil es jetzt (einfach und ohne
theologischen Krimskrams gesprochen) rechtschaffene Christen gibt, soll es wahr
sein, daß Christus bei Jericho zwei Blinde geheilt, zu Kana Wasser in Wein
verwandelt habe? Da ist es in der That Zeit, bald besondere Lehrstühle für
christliche Logik zu errichten; denn unsere bisherige heidnische läßt dergleichen
Schlüsse nicht passiren. Eine bequeme Sache wäre es freilich um solchen
Uuiversalbeweis, wenn es nur nicht zugleich die allersinnloseste Sache darum
wäre. Sinnlos? Herr R. ist vielmehr „überzeugt, hätte Lessing diese in der
Theologie unseres Jahrhunderts immer mehr zur Anerkennung kommende Ein¬
sicht gehabt, so wären ihm die Angriffe des Ungenannten, so weit sie die
Schrift betrafen, lächerlich, so weit den Herrn und seine Apostel, lästerlich er¬
schienen" (S. 223). Die Einsicht, die Lessing gefehlt, bestimmt Herrn R. dies¬
mal näher als die Erkenntniß, daß das Christenthum ein causales Princip,
ein in die Menschheit in den Tagen Jesu gepflanzter Baum sei, der immer
noch fortlebe und treibe und aus dessen noch heute reisenden Wunderfrüchten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/466>, abgerufen am 23.07.2024.