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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Lebensfragen, die gesellschaftlichen und religiösen Principien dieser Völkerschaften
und ebensowenig um die Ursachen ihrer Entwickelung und ihres Falles. So
findet man in ihren Werken wol materielle Gelehrsamkeit, aber kein organi¬
sches Princip, und so können die Ansprüche, welche sie auf dem Gebiete der
geistigen Arbeit zu erheben berechtigt sind, nur bescheidene sein.

Dasselbe gilt von den Czechen, die man als nationale Dichter feiert, selbst
von denen, die wie Celakowsky und Erben in erster Reihe genannt werden.
Alle Erzeugnisse derselben, auf dem Gebiete des Dramas sowie auf denen der
Epik und Lyrik, sind, wo nicht Übersetzungen, wenigstens Reminiscenzen und
Compilationen von solchen aus deutschen Mustern. Wo sie einen Schein
von Originalität haben, besteht diese nur in der Form, welche sie der Poesie
oder der Sprache des Volkes entlehnen. Auffassung und Gedanke zeigen nir¬
gends das Gepräge freier schöpferischer Kraft.

Anders verhält es sich mit den untern Schichten des Volkes. Zwar macht
sich auch hier das deutsche Element in mancherlei Beziehungen geltend, aber
doch immer nur in untergeordneter Weise. Dies gilt, wie natürlich, vorzugs¬
weise von dem Landvolk und hier wieder ganz besonders von den Strichen,
welche von großen Heerstraßen und volkreicheren Städten fern liegen.

Indem wir aus diesem Gebiet Einiges mittheilen, wird sich das zeigen,
was außer der Sprache jetzt noch die eigentliche Nationalität der Czechen aus¬
macht. Wir werden zwar hier nicht den Normalmenschen, aber ein recht inter¬
essantes und nach einigen Seiten hin liebenswürdiges Bild einer Volksseele sehen.

Das Nächste, was uns in die Augen fällt, ist die ungemeine Tanzlust
der Czechen und die Erfindungsgabe, die sie auf diesem Gebiete entwickeln.
Hier und auf dem damit zusammenhängenden Gebiete der Musik liegen ihre
wirklichen Verdienste um die Welt. Ein Sammler der böhmischen Tänze
und Tanzmelodien, aus dessen Darstellung wir im Folgenden das Wich¬
tigste auszugsweise entnehmen"), wußte davon nicht weniger als anderthalb¬
hundert zu nennen, und wenn darunter eine ziemliche Anzahl sind, die jetzt
nicht mehr vorkommen, so scheint der im Volke liegende schöpferische Trieb trotz
des Vorwiegens der von fremdher eingedrungenen Modetänze noch alljährlich
neue hervorzubringen. Allenthalben, wo das czechische Landvolk gesellig zu¬
sammenkommt, muß getanzt und gesungen werden, nicht blos bei Kirchweih
und Erntefest, Hochzeit und Taufe, sondern auch bei Begräbnissen. Der Tanz¬
boden ist der Paradeplatz, die Eigenschaft eines guten Tänzers das höchste Lob
der czechischen Jugend. Tanze man jetzt nur in entlegenen Kreisen noch nach
bloßem Gesang oder nach Dudelsack und Hackebrett, in der Regel nur nach



") Böhmische Nationaltanz'e. -- Culturstudie von Alfred Walten. Prag, H. Dominikus
18S9. Zwei Bündchen. Die Mittheilungen des Verfassers beruhen zum großen Theil aus
eigner Beobachtung.

Lebensfragen, die gesellschaftlichen und religiösen Principien dieser Völkerschaften
und ebensowenig um die Ursachen ihrer Entwickelung und ihres Falles. So
findet man in ihren Werken wol materielle Gelehrsamkeit, aber kein organi¬
sches Princip, und so können die Ansprüche, welche sie auf dem Gebiete der
geistigen Arbeit zu erheben berechtigt sind, nur bescheidene sein.

Dasselbe gilt von den Czechen, die man als nationale Dichter feiert, selbst
von denen, die wie Celakowsky und Erben in erster Reihe genannt werden.
Alle Erzeugnisse derselben, auf dem Gebiete des Dramas sowie auf denen der
Epik und Lyrik, sind, wo nicht Übersetzungen, wenigstens Reminiscenzen und
Compilationen von solchen aus deutschen Mustern. Wo sie einen Schein
von Originalität haben, besteht diese nur in der Form, welche sie der Poesie
oder der Sprache des Volkes entlehnen. Auffassung und Gedanke zeigen nir¬
gends das Gepräge freier schöpferischer Kraft.

Anders verhält es sich mit den untern Schichten des Volkes. Zwar macht
sich auch hier das deutsche Element in mancherlei Beziehungen geltend, aber
doch immer nur in untergeordneter Weise. Dies gilt, wie natürlich, vorzugs¬
weise von dem Landvolk und hier wieder ganz besonders von den Strichen,
welche von großen Heerstraßen und volkreicheren Städten fern liegen.

Indem wir aus diesem Gebiet Einiges mittheilen, wird sich das zeigen,
was außer der Sprache jetzt noch die eigentliche Nationalität der Czechen aus¬
macht. Wir werden zwar hier nicht den Normalmenschen, aber ein recht inter¬
essantes und nach einigen Seiten hin liebenswürdiges Bild einer Volksseele sehen.

Das Nächste, was uns in die Augen fällt, ist die ungemeine Tanzlust
der Czechen und die Erfindungsgabe, die sie auf diesem Gebiete entwickeln.
Hier und auf dem damit zusammenhängenden Gebiete der Musik liegen ihre
wirklichen Verdienste um die Welt. Ein Sammler der böhmischen Tänze
und Tanzmelodien, aus dessen Darstellung wir im Folgenden das Wich¬
tigste auszugsweise entnehmen"), wußte davon nicht weniger als anderthalb¬
hundert zu nennen, und wenn darunter eine ziemliche Anzahl sind, die jetzt
nicht mehr vorkommen, so scheint der im Volke liegende schöpferische Trieb trotz
des Vorwiegens der von fremdher eingedrungenen Modetänze noch alljährlich
neue hervorzubringen. Allenthalben, wo das czechische Landvolk gesellig zu¬
sammenkommt, muß getanzt und gesungen werden, nicht blos bei Kirchweih
und Erntefest, Hochzeit und Taufe, sondern auch bei Begräbnissen. Der Tanz¬
boden ist der Paradeplatz, die Eigenschaft eines guten Tänzers das höchste Lob
der czechischen Jugend. Tanze man jetzt nur in entlegenen Kreisen noch nach
bloßem Gesang oder nach Dudelsack und Hackebrett, in der Regel nur nach



") Böhmische Nationaltanz'e. — Culturstudie von Alfred Walten. Prag, H. Dominikus
18S9. Zwei Bündchen. Die Mittheilungen des Verfassers beruhen zum großen Theil aus
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[0434] Lebensfragen, die gesellschaftlichen und religiösen Principien dieser Völkerschaften und ebensowenig um die Ursachen ihrer Entwickelung und ihres Falles. So findet man in ihren Werken wol materielle Gelehrsamkeit, aber kein organi¬ sches Princip, und so können die Ansprüche, welche sie auf dem Gebiete der geistigen Arbeit zu erheben berechtigt sind, nur bescheidene sein. Dasselbe gilt von den Czechen, die man als nationale Dichter feiert, selbst von denen, die wie Celakowsky und Erben in erster Reihe genannt werden. Alle Erzeugnisse derselben, auf dem Gebiete des Dramas sowie auf denen der Epik und Lyrik, sind, wo nicht Übersetzungen, wenigstens Reminiscenzen und Compilationen von solchen aus deutschen Mustern. Wo sie einen Schein von Originalität haben, besteht diese nur in der Form, welche sie der Poesie oder der Sprache des Volkes entlehnen. Auffassung und Gedanke zeigen nir¬ gends das Gepräge freier schöpferischer Kraft. Anders verhält es sich mit den untern Schichten des Volkes. Zwar macht sich auch hier das deutsche Element in mancherlei Beziehungen geltend, aber doch immer nur in untergeordneter Weise. Dies gilt, wie natürlich, vorzugs¬ weise von dem Landvolk und hier wieder ganz besonders von den Strichen, welche von großen Heerstraßen und volkreicheren Städten fern liegen. Indem wir aus diesem Gebiet Einiges mittheilen, wird sich das zeigen, was außer der Sprache jetzt noch die eigentliche Nationalität der Czechen aus¬ macht. Wir werden zwar hier nicht den Normalmenschen, aber ein recht inter¬ essantes und nach einigen Seiten hin liebenswürdiges Bild einer Volksseele sehen. Das Nächste, was uns in die Augen fällt, ist die ungemeine Tanzlust der Czechen und die Erfindungsgabe, die sie auf diesem Gebiete entwickeln. Hier und auf dem damit zusammenhängenden Gebiete der Musik liegen ihre wirklichen Verdienste um die Welt. Ein Sammler der böhmischen Tänze und Tanzmelodien, aus dessen Darstellung wir im Folgenden das Wich¬ tigste auszugsweise entnehmen"), wußte davon nicht weniger als anderthalb¬ hundert zu nennen, und wenn darunter eine ziemliche Anzahl sind, die jetzt nicht mehr vorkommen, so scheint der im Volke liegende schöpferische Trieb trotz des Vorwiegens der von fremdher eingedrungenen Modetänze noch alljährlich neue hervorzubringen. Allenthalben, wo das czechische Landvolk gesellig zu¬ sammenkommt, muß getanzt und gesungen werden, nicht blos bei Kirchweih und Erntefest, Hochzeit und Taufe, sondern auch bei Begräbnissen. Der Tanz¬ boden ist der Paradeplatz, die Eigenschaft eines guten Tänzers das höchste Lob der czechischen Jugend. Tanze man jetzt nur in entlegenen Kreisen noch nach bloßem Gesang oder nach Dudelsack und Hackebrett, in der Regel nur nach ") Böhmische Nationaltanz'e. — Culturstudie von Alfred Walten. Prag, H. Dominikus 18S9. Zwei Bündchen. Die Mittheilungen des Verfassers beruhen zum großen Theil aus eigner Beobachtung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/434>, abgerufen am 23.07.2024.