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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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mit denen sie verübt worden, in demselben Verhältniß gebraucht werden.
Dasselbe gilt von Selbstmorden u. s. w."

Wir wollen für einen Augenblick dies Zahlenverhältniß als beglaubigt
annehmen, obgleich wir uns der Bemerkung nicht erwehren können, daß in
der Art und Weise, wie solche Zahlen zusammengestellt werden, doch immer
viel Willkür herrscht. Wenn z. B. Buckle fortfährt: "Die Zahl der Perso¬
nen, welche in Frankreich zwischen 1826 und 1844 wegen Verbrechen ange¬
klagt wurden, ist ungefähr der Zahl der Todesfälle männlicher Personen gleich,
die in derselben Zeit in Paris stattfanden," so ist diese Zusammenstellung doch
eine handgreifliche Kinderei. Die Hauptsache ist, was Buckle aus jenem Um¬
stand schließt.

"Bei den Eigenthümlichkeiten, die mit dem Verbrechen des Selbstmords
verknüpft sind, ist es wahrlich eine erstaunliche Thatsache, daß alle Zeugnisse,
die wir besitzen, zu einem großen Schlüsse hindrängen, und uns nicht in
Zweifel darüber lassen können, daß der Selbstmord lediglich das Erzeugniß
des allgemeinen Zustandes der Gesellschaft ist und daß der einzelne Frevler
nur das verwirklicht, was eine nothwendige Folge vorhergehender Umstünde
ist. In einem bestimmten Zustande der Gesellschaft muß eine gewisse An¬
zahl Menschen ihrem Leben selbst ein Ende machen. Dies ist das allgemeine
Gesetz; die besondere Frage, wer nun das Verbrechen begehen soll, hängt
natürlich von besondern Gesetzen ab, welche doch in ihrer Gesammtwirksam-
keit dem allgemeinen Gesetz gehorchen müssen, dem sie alle unterworfen sind.
Und die Macht des höheren Gesetzes ist so unwiderstehlich, daß weder die
Liebe zum Leben, noch die Furcht vor dem Jenseits den geringsten Einfluß
auch nur auf die Hemmung seiner Wirksamkeit auszuüben vermag. . . . Alle
Zeugnisse zwingen uns zu dem Schluß, daß die Vergehen der Menschen nicht
sowohl das Ergebniß der Laster des einzelnen Verbrechers sind, als des Zu¬
standes der Gesellschaft, in welche dieser Einzelne geworfen wurde. Dies ist
ein Schluß, der auf umfassenden einleuchtenden und aller Welt zugänglichen
Beweisen beruht und also nicht umgestoßen, ja nicht einmal in Zweifel gezo¬
gen werden kann durch irgend eine von den Hypothesen, wodurch Meta¬
Physiker und Theologen bisher das Studium der Geschichte verwirrt ha¬
ben." --

Hier finden wir uus nun in der dicksten Mystik angelangt. Also schwebt
bei einem gewissen Zustand der Gesellschaft ein bestimmtes Quantum von
Selbstmord-Stoff, Giftmord-Stoff, Diebstahl-Stoff u. s. w. in der Luft,
welches sich entladen muß. gleich viel an welchem Individuum! -- Alle My.
seit beruht aber darauf, daß man Collectivbegriffe, d. h. Begriffe, die nichts
anders ausdrücken als eine Zusammenfassung einzelner Individuen, hyposta-
sirt, d. h. ein Wesen, eine Individualität, oder wohl gar eine Person aus


mit denen sie verübt worden, in demselben Verhältniß gebraucht werden.
Dasselbe gilt von Selbstmorden u. s. w."

Wir wollen für einen Augenblick dies Zahlenverhältniß als beglaubigt
annehmen, obgleich wir uns der Bemerkung nicht erwehren können, daß in
der Art und Weise, wie solche Zahlen zusammengestellt werden, doch immer
viel Willkür herrscht. Wenn z. B. Buckle fortfährt: „Die Zahl der Perso¬
nen, welche in Frankreich zwischen 1826 und 1844 wegen Verbrechen ange¬
klagt wurden, ist ungefähr der Zahl der Todesfälle männlicher Personen gleich,
die in derselben Zeit in Paris stattfanden," so ist diese Zusammenstellung doch
eine handgreifliche Kinderei. Die Hauptsache ist, was Buckle aus jenem Um¬
stand schließt.

„Bei den Eigenthümlichkeiten, die mit dem Verbrechen des Selbstmords
verknüpft sind, ist es wahrlich eine erstaunliche Thatsache, daß alle Zeugnisse,
die wir besitzen, zu einem großen Schlüsse hindrängen, und uns nicht in
Zweifel darüber lassen können, daß der Selbstmord lediglich das Erzeugniß
des allgemeinen Zustandes der Gesellschaft ist und daß der einzelne Frevler
nur das verwirklicht, was eine nothwendige Folge vorhergehender Umstünde
ist. In einem bestimmten Zustande der Gesellschaft muß eine gewisse An¬
zahl Menschen ihrem Leben selbst ein Ende machen. Dies ist das allgemeine
Gesetz; die besondere Frage, wer nun das Verbrechen begehen soll, hängt
natürlich von besondern Gesetzen ab, welche doch in ihrer Gesammtwirksam-
keit dem allgemeinen Gesetz gehorchen müssen, dem sie alle unterworfen sind.
Und die Macht des höheren Gesetzes ist so unwiderstehlich, daß weder die
Liebe zum Leben, noch die Furcht vor dem Jenseits den geringsten Einfluß
auch nur auf die Hemmung seiner Wirksamkeit auszuüben vermag. . . . Alle
Zeugnisse zwingen uns zu dem Schluß, daß die Vergehen der Menschen nicht
sowohl das Ergebniß der Laster des einzelnen Verbrechers sind, als des Zu¬
standes der Gesellschaft, in welche dieser Einzelne geworfen wurde. Dies ist
ein Schluß, der auf umfassenden einleuchtenden und aller Welt zugänglichen
Beweisen beruht und also nicht umgestoßen, ja nicht einmal in Zweifel gezo¬
gen werden kann durch irgend eine von den Hypothesen, wodurch Meta¬
Physiker und Theologen bisher das Studium der Geschichte verwirrt ha¬
ben." —

Hier finden wir uus nun in der dicksten Mystik angelangt. Also schwebt
bei einem gewissen Zustand der Gesellschaft ein bestimmtes Quantum von
Selbstmord-Stoff, Giftmord-Stoff, Diebstahl-Stoff u. s. w. in der Luft,
welches sich entladen muß. gleich viel an welchem Individuum! — Alle My.
seit beruht aber darauf, daß man Collectivbegriffe, d. h. Begriffe, die nichts
anders ausdrücken als eine Zusammenfassung einzelner Individuen, hyposta-
sirt, d. h. ein Wesen, eine Individualität, oder wohl gar eine Person aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/315>, abgerufen am 23.07.2024.