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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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sklavisch gegen die Herren, aber ohne Seele, ohne Glauben*), ohne Kühnheit.
Die Handwerker und das niedere Volk vielleicht in Rom dem Papst als
Kirchenhaupt ergeben, wenig dem Fürsten, durchaus nicht der Regierung,
stolz auf den Römernamen, wild und streitsüchtig. Der Bürgerstand der Pro¬
vinzen in den geheimen liberalen Gesellschaften, zu Pulsader aufgelegt, keck
und unbotmäßig. Das Landvolk allenthalben ruhig, voll Ehrfurcht vor dem
Haupt der Religion, voll Achtung gegen den Priesterstand, mißvergnügt nur
über das übermäßige Zahlen.

Der niedere Klerus sowol in der Hauptstadt als in der Provinz einfach,
ziemlich ungebildet, verdrießlich über die Mißbräuche in Rom und über die
schlechte Negierung, mit wenigen Ausnahmen weder sittenlos noch bigott;
der mehr aus Fremden als aus Römern bestehende Stadtklerus, welcher üppig
von Mißbräuchen in Macht und Ehren lebt oder so zu leben hofft, falsch,
heuchlerisch, nach Bedarf auch zu Verschwörung und Aufruhr geneigt. Kurz,
die Negierung war nicht stark durch die Liebe der Unterthanen und die öffent¬
liche Meinung. -- -

Wir haben einen ausgezeichneten Bürger des Kirchenstaates reden lassen,
der die wichtigsten Staatsämter bekleidete und der, als er dies schrieb, sich
schon seit Jahren zu den Gemäßigten rechnete. Seine Schilderung gilt für
klassisch. Andere urtheilen viel schärfer, namentlich über die Sittlichkeit der
obern Würdenträger.

Das traurige Gemälde, das wir aufrollten, entspricht, wie später aus¬
geführt werden soll, in allen seinen Hauptzügen auch dem heutigen Rom.
Als Gregor verschieden war, pochte der Cardinalkämmerer, wie üblich, an
seine Stirn, rief ihn dreimal beim Namen und zerbrach dann den Fischer¬
ring. Die Glocke des Kapitals verkündete den Tod des Papstes und ver¬
breitete, wie immer bei solchen Gelegenheiten, das Gefühl der Anarchie des
Zwischenreichs, welches die Zungen zu bittern Reden über den Verblichnen
entfesselte. Mit einer Spannung, wie selten vorher, sah Rom in der Nacht
des 13. Juni 1847 das Conclave zusammentreten, erwartete es das Heraus¬
kommen des neugewählten Kirchenfürsten auf den Balkon des Quirinalpalastes.
Das niedere Volk wünschte die Tiara dem Cardinal Micara, der sich ihm
durch eine Gestalt gleich dem Moses des Michelangelo und durch einen ehr¬
würdigen weißen Patriarchenbart empfahl -- eine kühne herbe Natur, ein ge¬
waltiger Prediger, der als General der Kapuziner "demokratisch wie ein
Jacobiner, absolut wie der fünfte Sixtus" verfahren war, der den Traste-
verinern, die ihm im Voraus zu seiner Wahl Glück gewünscht, geantwortet
haben sollte: "Hütet euch, mit mir würde euch weder Brot noch der Galgen



>") Bekannt ist, daß es nirgends mehr Atheisten gibt, als in Italien, und in Italien
nirgends mehr als in Rom.

sklavisch gegen die Herren, aber ohne Seele, ohne Glauben*), ohne Kühnheit.
Die Handwerker und das niedere Volk vielleicht in Rom dem Papst als
Kirchenhaupt ergeben, wenig dem Fürsten, durchaus nicht der Regierung,
stolz auf den Römernamen, wild und streitsüchtig. Der Bürgerstand der Pro¬
vinzen in den geheimen liberalen Gesellschaften, zu Pulsader aufgelegt, keck
und unbotmäßig. Das Landvolk allenthalben ruhig, voll Ehrfurcht vor dem
Haupt der Religion, voll Achtung gegen den Priesterstand, mißvergnügt nur
über das übermäßige Zahlen.

Der niedere Klerus sowol in der Hauptstadt als in der Provinz einfach,
ziemlich ungebildet, verdrießlich über die Mißbräuche in Rom und über die
schlechte Negierung, mit wenigen Ausnahmen weder sittenlos noch bigott;
der mehr aus Fremden als aus Römern bestehende Stadtklerus, welcher üppig
von Mißbräuchen in Macht und Ehren lebt oder so zu leben hofft, falsch,
heuchlerisch, nach Bedarf auch zu Verschwörung und Aufruhr geneigt. Kurz,
die Negierung war nicht stark durch die Liebe der Unterthanen und die öffent¬
liche Meinung. — -

Wir haben einen ausgezeichneten Bürger des Kirchenstaates reden lassen,
der die wichtigsten Staatsämter bekleidete und der, als er dies schrieb, sich
schon seit Jahren zu den Gemäßigten rechnete. Seine Schilderung gilt für
klassisch. Andere urtheilen viel schärfer, namentlich über die Sittlichkeit der
obern Würdenträger.

Das traurige Gemälde, das wir aufrollten, entspricht, wie später aus¬
geführt werden soll, in allen seinen Hauptzügen auch dem heutigen Rom.
Als Gregor verschieden war, pochte der Cardinalkämmerer, wie üblich, an
seine Stirn, rief ihn dreimal beim Namen und zerbrach dann den Fischer¬
ring. Die Glocke des Kapitals verkündete den Tod des Papstes und ver¬
breitete, wie immer bei solchen Gelegenheiten, das Gefühl der Anarchie des
Zwischenreichs, welches die Zungen zu bittern Reden über den Verblichnen
entfesselte. Mit einer Spannung, wie selten vorher, sah Rom in der Nacht
des 13. Juni 1847 das Conclave zusammentreten, erwartete es das Heraus¬
kommen des neugewählten Kirchenfürsten auf den Balkon des Quirinalpalastes.
Das niedere Volk wünschte die Tiara dem Cardinal Micara, der sich ihm
durch eine Gestalt gleich dem Moses des Michelangelo und durch einen ehr¬
würdigen weißen Patriarchenbart empfahl — eine kühne herbe Natur, ein ge¬
waltiger Prediger, der als General der Kapuziner „demokratisch wie ein
Jacobiner, absolut wie der fünfte Sixtus" verfahren war, der den Traste-
verinern, die ihm im Voraus zu seiner Wahl Glück gewünscht, geantwortet
haben sollte: „Hütet euch, mit mir würde euch weder Brot noch der Galgen



>") Bekannt ist, daß es nirgends mehr Atheisten gibt, als in Italien, und in Italien
nirgends mehr als in Rom.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/302>, abgerufen am 23.07.2024.