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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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der andern Seite das Verharren und Hängen Andersdenkender für verdienst¬
lich hielt. Nur derjenige Historiker kann der Geschichte dieser Zeit einen wesentlichen
Dienst leisten, welcher überall auf die ersten Quellen zurückgeht und außerdem
seine Studien aus die breitesten Grundlagen ausdehnt. Denn wenn man z. B.
auch alle einzelnen Handlungen von Heinrich dem Achten richtig erzählen wollte, so
würden sie, die oft mehr gegen die menschliche Natur zu verstoßen scheinen,
als die Extravaganzen vom König Blaubart und von halbdämonischen Zwergen,
doch unverständlich bleiben, wenn nicht der moralische und intellektuelle Zu¬
stand des Volkes erst klar gemacht wäre. Es ist nicht so wichtig, zu beschrei¬
ben, wer Heinrich und wer Elisabeth war, als zu zeigen, wie ein Heinrich
und eine Elisabeth in England möglich wurden. Wir schreiben nicht Ge¬
schichte, sondern sind bloß ein Leser der Geschichte von Pr. R. . Wir wollen
indessen doch eine an sich ganz unbedeutende Thatsache kurz anführen. In
ihrer Vereinzelung, wie wir sie hier geben, kann sie nichts Wesentliches zur
Erklärung jener Zustände beitragen. Sie läßt uns aber doch einen flüchtigen
Blick auf das Treiben jener Tage werfen. Drei Prälaten der neuen Kirche,
nämlich Erzbischof Cranmer und die Bischöfe von Worcester und Salisbury dis-
putirten in vollem Ernste zwei Wochen lang mit dem Doktor der Theologie
Croukhorn. der behauptete, im Himmel gewesen zu sein, wo ihn die Jungfrau
Maria bei der Hand gefaßt und ihm die heilige Dreieinigkeit gezeigt habe,
die, in einen großen blauen Mantel gekleidet, von der Mitte des Körpers
aufwärts drei Leiber und drei Köpfe gehabt und nach unten nur in Einen
Unterleib und zwei Beine ausgelaufen sei. Die Bischöfe mögen im Stillen
darüber gelächelt haben. Ihre ernste Behandlung der Sache zeigt aber, wie
stark solche Verirrungen im Volke vertreten waren. Das ist ein Beispiel von
Hunderten. Zugleich predigte ein Mann wie Bischof Latiner Kapuzinaden
auf dem öffentlichen Platze bei Se. Pauls Croß, in denen er unter Anderem
sagte, daß der König nicht genug thun würde, wenn er alle Bischöfe, Aebte
u. s. w., alle Herzöge, Lords u. s. w. hängen ließe. In einer Zeit und bei
einem Volke, das zu keinem geringen Theile aus solchen Elementen zusammen¬
gesetzt war, war beinahe Alles möglich.

Nach den vorstehenden Bemerkungen darüber, was der Historiker der
Tudor zu thun hat, müssen die Leistungen von Pr. R. klein erscheinen. Bei
seinen früheren Arbeiten ist er oft der englischen Politik und den englischen
Staatsmännern begegnet. Der Platz, den England in der allgemeinen euro¬
päischen Politik einnahm, hat sich in seiner Vorstellung genau abgegrenzt.
Was war daher natürlicher, als daß er ihn auszufüllen und dadurch seine
historischen Arbeiten mehr abzuschließen trachtete? Hätte er das nach gründlichen
Studien gethan, so würde er gewiß etwas Vortreffliches geleistet haben. Er
hat sich aber mit wenig mehr begnügt, als England aus den Erzählungen


der andern Seite das Verharren und Hängen Andersdenkender für verdienst¬
lich hielt. Nur derjenige Historiker kann der Geschichte dieser Zeit einen wesentlichen
Dienst leisten, welcher überall auf die ersten Quellen zurückgeht und außerdem
seine Studien aus die breitesten Grundlagen ausdehnt. Denn wenn man z. B.
auch alle einzelnen Handlungen von Heinrich dem Achten richtig erzählen wollte, so
würden sie, die oft mehr gegen die menschliche Natur zu verstoßen scheinen,
als die Extravaganzen vom König Blaubart und von halbdämonischen Zwergen,
doch unverständlich bleiben, wenn nicht der moralische und intellektuelle Zu¬
stand des Volkes erst klar gemacht wäre. Es ist nicht so wichtig, zu beschrei¬
ben, wer Heinrich und wer Elisabeth war, als zu zeigen, wie ein Heinrich
und eine Elisabeth in England möglich wurden. Wir schreiben nicht Ge¬
schichte, sondern sind bloß ein Leser der Geschichte von Pr. R. . Wir wollen
indessen doch eine an sich ganz unbedeutende Thatsache kurz anführen. In
ihrer Vereinzelung, wie wir sie hier geben, kann sie nichts Wesentliches zur
Erklärung jener Zustände beitragen. Sie läßt uns aber doch einen flüchtigen
Blick auf das Treiben jener Tage werfen. Drei Prälaten der neuen Kirche,
nämlich Erzbischof Cranmer und die Bischöfe von Worcester und Salisbury dis-
putirten in vollem Ernste zwei Wochen lang mit dem Doktor der Theologie
Croukhorn. der behauptete, im Himmel gewesen zu sein, wo ihn die Jungfrau
Maria bei der Hand gefaßt und ihm die heilige Dreieinigkeit gezeigt habe,
die, in einen großen blauen Mantel gekleidet, von der Mitte des Körpers
aufwärts drei Leiber und drei Köpfe gehabt und nach unten nur in Einen
Unterleib und zwei Beine ausgelaufen sei. Die Bischöfe mögen im Stillen
darüber gelächelt haben. Ihre ernste Behandlung der Sache zeigt aber, wie
stark solche Verirrungen im Volke vertreten waren. Das ist ein Beispiel von
Hunderten. Zugleich predigte ein Mann wie Bischof Latiner Kapuzinaden
auf dem öffentlichen Platze bei Se. Pauls Croß, in denen er unter Anderem
sagte, daß der König nicht genug thun würde, wenn er alle Bischöfe, Aebte
u. s. w., alle Herzöge, Lords u. s. w. hängen ließe. In einer Zeit und bei
einem Volke, das zu keinem geringen Theile aus solchen Elementen zusammen¬
gesetzt war, war beinahe Alles möglich.

Nach den vorstehenden Bemerkungen darüber, was der Historiker der
Tudor zu thun hat, müssen die Leistungen von Pr. R. klein erscheinen. Bei
seinen früheren Arbeiten ist er oft der englischen Politik und den englischen
Staatsmännern begegnet. Der Platz, den England in der allgemeinen euro¬
päischen Politik einnahm, hat sich in seiner Vorstellung genau abgegrenzt.
Was war daher natürlicher, als daß er ihn auszufüllen und dadurch seine
historischen Arbeiten mehr abzuschließen trachtete? Hätte er das nach gründlichen
Studien gethan, so würde er gewiß etwas Vortreffliches geleistet haben. Er
hat sich aber mit wenig mehr begnügt, als England aus den Erzählungen


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[0139] der andern Seite das Verharren und Hängen Andersdenkender für verdienst¬ lich hielt. Nur derjenige Historiker kann der Geschichte dieser Zeit einen wesentlichen Dienst leisten, welcher überall auf die ersten Quellen zurückgeht und außerdem seine Studien aus die breitesten Grundlagen ausdehnt. Denn wenn man z. B. auch alle einzelnen Handlungen von Heinrich dem Achten richtig erzählen wollte, so würden sie, die oft mehr gegen die menschliche Natur zu verstoßen scheinen, als die Extravaganzen vom König Blaubart und von halbdämonischen Zwergen, doch unverständlich bleiben, wenn nicht der moralische und intellektuelle Zu¬ stand des Volkes erst klar gemacht wäre. Es ist nicht so wichtig, zu beschrei¬ ben, wer Heinrich und wer Elisabeth war, als zu zeigen, wie ein Heinrich und eine Elisabeth in England möglich wurden. Wir schreiben nicht Ge¬ schichte, sondern sind bloß ein Leser der Geschichte von Pr. R. . Wir wollen indessen doch eine an sich ganz unbedeutende Thatsache kurz anführen. In ihrer Vereinzelung, wie wir sie hier geben, kann sie nichts Wesentliches zur Erklärung jener Zustände beitragen. Sie läßt uns aber doch einen flüchtigen Blick auf das Treiben jener Tage werfen. Drei Prälaten der neuen Kirche, nämlich Erzbischof Cranmer und die Bischöfe von Worcester und Salisbury dis- putirten in vollem Ernste zwei Wochen lang mit dem Doktor der Theologie Croukhorn. der behauptete, im Himmel gewesen zu sein, wo ihn die Jungfrau Maria bei der Hand gefaßt und ihm die heilige Dreieinigkeit gezeigt habe, die, in einen großen blauen Mantel gekleidet, von der Mitte des Körpers aufwärts drei Leiber und drei Köpfe gehabt und nach unten nur in Einen Unterleib und zwei Beine ausgelaufen sei. Die Bischöfe mögen im Stillen darüber gelächelt haben. Ihre ernste Behandlung der Sache zeigt aber, wie stark solche Verirrungen im Volke vertreten waren. Das ist ein Beispiel von Hunderten. Zugleich predigte ein Mann wie Bischof Latiner Kapuzinaden auf dem öffentlichen Platze bei Se. Pauls Croß, in denen er unter Anderem sagte, daß der König nicht genug thun würde, wenn er alle Bischöfe, Aebte u. s. w., alle Herzöge, Lords u. s. w. hängen ließe. In einer Zeit und bei einem Volke, das zu keinem geringen Theile aus solchen Elementen zusammen¬ gesetzt war, war beinahe Alles möglich. Nach den vorstehenden Bemerkungen darüber, was der Historiker der Tudor zu thun hat, müssen die Leistungen von Pr. R. klein erscheinen. Bei seinen früheren Arbeiten ist er oft der englischen Politik und den englischen Staatsmännern begegnet. Der Platz, den England in der allgemeinen euro¬ päischen Politik einnahm, hat sich in seiner Vorstellung genau abgegrenzt. Was war daher natürlicher, als daß er ihn auszufüllen und dadurch seine historischen Arbeiten mehr abzuschließen trachtete? Hätte er das nach gründlichen Studien gethan, so würde er gewiß etwas Vortreffliches geleistet haben. Er hat sich aber mit wenig mehr begnügt, als England aus den Erzählungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/139>, abgerufen am 23.07.2024.