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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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einmal dahin gekommen ist, daß die Existenz des Staats der größern Mehr¬
zahl der Bürger gleichgiltig wird, und daß denselben jede Form der Staats¬
gewalt erträglich, ja wünschenswert!) erscheint, sobald dadurch nur die materiellen
Interessen des Einzelnen gesichert werden, dann hat der Staat die Grund¬
bedingung seiner Existenz verloren, und seine Dauer hängt blos vom Zufall ab.

Daß man aber seit 184g den Begriff der Nationalität mit jenem der
Sprachverschiedcnheit identificirt; daß man in einer Monarchie, welche aus¬
schließlich auf der Grundlage des historischen Rechts ruht, dieses gar nicht
berücksichtigt; daß man ein System aufgestellt, welches zunächst in den wichtig¬
sten Theilen des Staats (in Ungarn, Böhmen) eine Verwirrung aller Ver¬
hältnisse, eine Systematisirung des Sprachenkampfes, in seinem weitern Verfolg
aber eben jene Bestrebungen befördern mußte, die mit dem Bestehen des öst¬
reichischen Staats im Gegensatz stehn, hat lediglich seinen Grund in dem
Streben, Ungarn zu schwächen. Im Gegentheil ist der Begriff der Nationalität
in Oestreich mit jenem der geschichtlichen, provinziellen Besonderheit
aufs innigste verbunden, ja identisch, so daß sich vielleicht keine bessere Defi¬
nition des Gefühls der Nationalität in Oestreich geben läßt, als wenn man
sagt, es sei jene Liebe, mit welcher die Bewohner der Monarchie
an dem einzelnen Theil desselben hangen, welchen jeder von
ihnen als sein specielles Vaterland betrachtet. Das Streben nach
nationaler Berechtigung in diesem Sinn ist nichts Anderes, als das Streben
nach provinzieller Autonomie; die Frage, ob das Streben der einzelnen
Völker nach nationaler Berechtigung mit der Einheit und Macht des östreichi¬
schen Staats im Gegensatz stehe, ist in ihrer praktischen Bedeutung ganz
identisch mit jener, ob das Bestehen der einzelnen Provinzen in ihren durch
die Geschichte bestimmten Grenzen und mit einem bedeutenden Maß der Auto¬
nomie in ihrer innern Verwaltung mit der Einheit des Staats unvereinbar sei.

Oestreich ist eins, weil die verschiedenen Theile der Monarchie alle mon¬
archisch sind und weil in allen das legitime Recht dieselbe Person als Herr¬
scher bezeichnet. Es zu erhalten, ist nur möglich, wenn man jene Elemente,
aus denen der Staat zusammengesetzt ist, möglichst zu kräftigen und als
Grundlage des neuen Organismus zu gebrauchen weiß. Der entgegengesetzte
Weg, den man bisher befolgt, ist schon darum ein verfehlter, weil ein Sy¬
stem, welches nothwendig mit der Desorganisation durch Jahrhunderte be¬
stehender Einrichtungen beginnen und, um sich zu befestigen, danach streben
muß, daß jeder einzelne Theil des Staats möglichst geschwächt werde, nie
zur Kräftigung des Ganzen führen kann. Die administrative Autonomie der
einzelnen Provinzen ist ein ebenso nothwendiges Moment der östreichischen
Verfassung als jene Institutionen, durch welche die Einheit der allgemeinen
Politik gesichert wird. -- Daraus ergibt sich folgender Entwurf.


Grenjlivtcn I. 185S. 57

einmal dahin gekommen ist, daß die Existenz des Staats der größern Mehr¬
zahl der Bürger gleichgiltig wird, und daß denselben jede Form der Staats¬
gewalt erträglich, ja wünschenswert!) erscheint, sobald dadurch nur die materiellen
Interessen des Einzelnen gesichert werden, dann hat der Staat die Grund¬
bedingung seiner Existenz verloren, und seine Dauer hängt blos vom Zufall ab.

Daß man aber seit 184g den Begriff der Nationalität mit jenem der
Sprachverschiedcnheit identificirt; daß man in einer Monarchie, welche aus¬
schließlich auf der Grundlage des historischen Rechts ruht, dieses gar nicht
berücksichtigt; daß man ein System aufgestellt, welches zunächst in den wichtig¬
sten Theilen des Staats (in Ungarn, Böhmen) eine Verwirrung aller Ver¬
hältnisse, eine Systematisirung des Sprachenkampfes, in seinem weitern Verfolg
aber eben jene Bestrebungen befördern mußte, die mit dem Bestehen des öst¬
reichischen Staats im Gegensatz stehn, hat lediglich seinen Grund in dem
Streben, Ungarn zu schwächen. Im Gegentheil ist der Begriff der Nationalität
in Oestreich mit jenem der geschichtlichen, provinziellen Besonderheit
aufs innigste verbunden, ja identisch, so daß sich vielleicht keine bessere Defi¬
nition des Gefühls der Nationalität in Oestreich geben läßt, als wenn man
sagt, es sei jene Liebe, mit welcher die Bewohner der Monarchie
an dem einzelnen Theil desselben hangen, welchen jeder von
ihnen als sein specielles Vaterland betrachtet. Das Streben nach
nationaler Berechtigung in diesem Sinn ist nichts Anderes, als das Streben
nach provinzieller Autonomie; die Frage, ob das Streben der einzelnen
Völker nach nationaler Berechtigung mit der Einheit und Macht des östreichi¬
schen Staats im Gegensatz stehe, ist in ihrer praktischen Bedeutung ganz
identisch mit jener, ob das Bestehen der einzelnen Provinzen in ihren durch
die Geschichte bestimmten Grenzen und mit einem bedeutenden Maß der Auto¬
nomie in ihrer innern Verwaltung mit der Einheit des Staats unvereinbar sei.

Oestreich ist eins, weil die verschiedenen Theile der Monarchie alle mon¬
archisch sind und weil in allen das legitime Recht dieselbe Person als Herr¬
scher bezeichnet. Es zu erhalten, ist nur möglich, wenn man jene Elemente,
aus denen der Staat zusammengesetzt ist, möglichst zu kräftigen und als
Grundlage des neuen Organismus zu gebrauchen weiß. Der entgegengesetzte
Weg, den man bisher befolgt, ist schon darum ein verfehlter, weil ein Sy¬
stem, welches nothwendig mit der Desorganisation durch Jahrhunderte be¬
stehender Einrichtungen beginnen und, um sich zu befestigen, danach streben
muß, daß jeder einzelne Theil des Staats möglichst geschwächt werde, nie
zur Kräftigung des Ganzen führen kann. Die administrative Autonomie der
einzelnen Provinzen ist ein ebenso nothwendiges Moment der östreichischen
Verfassung als jene Institutionen, durch welche die Einheit der allgemeinen
Politik gesichert wird. — Daraus ergibt sich folgender Entwurf.


Grenjlivtcn I. 185S. 57
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[0459] einmal dahin gekommen ist, daß die Existenz des Staats der größern Mehr¬ zahl der Bürger gleichgiltig wird, und daß denselben jede Form der Staats¬ gewalt erträglich, ja wünschenswert!) erscheint, sobald dadurch nur die materiellen Interessen des Einzelnen gesichert werden, dann hat der Staat die Grund¬ bedingung seiner Existenz verloren, und seine Dauer hängt blos vom Zufall ab. Daß man aber seit 184g den Begriff der Nationalität mit jenem der Sprachverschiedcnheit identificirt; daß man in einer Monarchie, welche aus¬ schließlich auf der Grundlage des historischen Rechts ruht, dieses gar nicht berücksichtigt; daß man ein System aufgestellt, welches zunächst in den wichtig¬ sten Theilen des Staats (in Ungarn, Böhmen) eine Verwirrung aller Ver¬ hältnisse, eine Systematisirung des Sprachenkampfes, in seinem weitern Verfolg aber eben jene Bestrebungen befördern mußte, die mit dem Bestehen des öst¬ reichischen Staats im Gegensatz stehn, hat lediglich seinen Grund in dem Streben, Ungarn zu schwächen. Im Gegentheil ist der Begriff der Nationalität in Oestreich mit jenem der geschichtlichen, provinziellen Besonderheit aufs innigste verbunden, ja identisch, so daß sich vielleicht keine bessere Defi¬ nition des Gefühls der Nationalität in Oestreich geben läßt, als wenn man sagt, es sei jene Liebe, mit welcher die Bewohner der Monarchie an dem einzelnen Theil desselben hangen, welchen jeder von ihnen als sein specielles Vaterland betrachtet. Das Streben nach nationaler Berechtigung in diesem Sinn ist nichts Anderes, als das Streben nach provinzieller Autonomie; die Frage, ob das Streben der einzelnen Völker nach nationaler Berechtigung mit der Einheit und Macht des östreichi¬ schen Staats im Gegensatz stehe, ist in ihrer praktischen Bedeutung ganz identisch mit jener, ob das Bestehen der einzelnen Provinzen in ihren durch die Geschichte bestimmten Grenzen und mit einem bedeutenden Maß der Auto¬ nomie in ihrer innern Verwaltung mit der Einheit des Staats unvereinbar sei. Oestreich ist eins, weil die verschiedenen Theile der Monarchie alle mon¬ archisch sind und weil in allen das legitime Recht dieselbe Person als Herr¬ scher bezeichnet. Es zu erhalten, ist nur möglich, wenn man jene Elemente, aus denen der Staat zusammengesetzt ist, möglichst zu kräftigen und als Grundlage des neuen Organismus zu gebrauchen weiß. Der entgegengesetzte Weg, den man bisher befolgt, ist schon darum ein verfehlter, weil ein Sy¬ stem, welches nothwendig mit der Desorganisation durch Jahrhunderte be¬ stehender Einrichtungen beginnen und, um sich zu befestigen, danach streben muß, daß jeder einzelne Theil des Staats möglichst geschwächt werde, nie zur Kräftigung des Ganzen führen kann. Die administrative Autonomie der einzelnen Provinzen ist ein ebenso nothwendiges Moment der östreichischen Verfassung als jene Institutionen, durch welche die Einheit der allgemeinen Politik gesichert wird. — Daraus ergibt sich folgender Entwurf. Grenjlivtcn I. 185S. 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/459>, abgerufen am 24.07.2024.