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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Massen einigermaßen gemildert, und zwar insofern, als sie im Dienste für den
Kriegszweck neue Anerkennungen ihres berechtigten Anspruchs auf socialpolitische
Besserstellung errungen hatten. Die von Nikolaus (wol nur als Mittel zur
Aneiferung der kriegerischen Opferfreudigkeit) in Aussicht gestellten socialen Ver¬
besserungen waren schon im Friedcnsprogramm Alexander des Zweiten als
Zweck ausgenommen und vom Gnadenmanifest bei der Krönung nach einzelnen
Richtungen hin vorbereitend angebahnt.

Das frühere Princip der gleichmäßigen Vernichtung aller Stande hatte
sich unproduktiv für die Zwecke der materiellen Entwicklung, der innern Er-
kräftigung des Reichs erwiesen; Alexanders des Ersten doctrinärer Versuch,
einer völlig freien Initiative des Adels die Erschaffung der Bauernfreiheit an¬
heimzustellen, hatte den Beweis geführt, daß die russische Aristokratie dafür
weder humane Bildung noch politischen Calcul genug besaß; Nikolaus des
Ersten "Baucrnverbesscrungen" hatten den Grundbesitz ruinirt, ohne die freie
Arbeit sich selbstständig entwickeln zu lassen, und waren deshalb vom national-
ökonomischen Ziel der Emancipation nur weiter weggerückt. Alle diese
Erfahrungen zusammenfassend entstand der neue Emancipationsplan. Er
überließ formell dem Grundadel die Initiative, erkannte also dadurch seinen
corporativen Bestand an. Er berechtigte serner die Adelscorporation politisch lui
twe; denn er gestand ihr das Recht der mitbedingenden Berathung des Emanci-
pationswcrkes zu. Er bezeichnete diese Berathungen und deren Beschüsse als voll¬
kommen frei; allein nur auf Grundlage und innerhalb des Bereiches der von
der Negierung octroyirten allgemeinen Principien. Diese laufen jedoch nicht
daraus hinaus, den Adel als politischen Stand anzuerkennen -- wie Alezan¬
der der Erste wollte; auch nicht darauf, als politischen Gegensatz zum adligen
Grundbesitz einen vom flottirenden Vermögen bedingten Bürgerstand empor-
zuzaubern -- wie es Katharina erfolglos versuchte. Der heutige Autokratis-
wus kann dieses Mittelglied der Gescllschaftsgliederung um so eher über¬
springen, als es im russischen Nationalcharakter keine Begründung findet und
auch nur ein fast verschwindendes Vruchtheil der Gesammtbevölkerung ausmacht.
Er stellt überhaupt dem Adel keine politische Corporation gegenüber, sondern
dem adligen Grundbesitzrecht die Freiheit der productiven Arbeit. Die freien
Arbeiter sollen die Masse sein, auf welche sich der neurussische Neformabso-
lutismus fraglos stützen kann. Das neue Princip des Autokratismus heißt
nicht: Vernichtung aller Stände, sondern Paralysirung des besitzenden
Standes durch die von der Negierung gehandhabten Arbeiter. Der Gegensatz
findet seinen Schwerpunkt nicht in ideellen und beziehentlich politischen Rech¬
ten, sondern in den materiellen Interessen.

Daß sich aus den freiwerdenden Arbeitermassen ein Stand herausbil¬
den kann, unterliegt keinem Zweifel. Allein er entsteht voraussichtlich nicht


Massen einigermaßen gemildert, und zwar insofern, als sie im Dienste für den
Kriegszweck neue Anerkennungen ihres berechtigten Anspruchs auf socialpolitische
Besserstellung errungen hatten. Die von Nikolaus (wol nur als Mittel zur
Aneiferung der kriegerischen Opferfreudigkeit) in Aussicht gestellten socialen Ver¬
besserungen waren schon im Friedcnsprogramm Alexander des Zweiten als
Zweck ausgenommen und vom Gnadenmanifest bei der Krönung nach einzelnen
Richtungen hin vorbereitend angebahnt.

Das frühere Princip der gleichmäßigen Vernichtung aller Stande hatte
sich unproduktiv für die Zwecke der materiellen Entwicklung, der innern Er-
kräftigung des Reichs erwiesen; Alexanders des Ersten doctrinärer Versuch,
einer völlig freien Initiative des Adels die Erschaffung der Bauernfreiheit an¬
heimzustellen, hatte den Beweis geführt, daß die russische Aristokratie dafür
weder humane Bildung noch politischen Calcul genug besaß; Nikolaus des
Ersten „Baucrnverbesscrungen" hatten den Grundbesitz ruinirt, ohne die freie
Arbeit sich selbstständig entwickeln zu lassen, und waren deshalb vom national-
ökonomischen Ziel der Emancipation nur weiter weggerückt. Alle diese
Erfahrungen zusammenfassend entstand der neue Emancipationsplan. Er
überließ formell dem Grundadel die Initiative, erkannte also dadurch seinen
corporativen Bestand an. Er berechtigte serner die Adelscorporation politisch lui
twe; denn er gestand ihr das Recht der mitbedingenden Berathung des Emanci-
pationswcrkes zu. Er bezeichnete diese Berathungen und deren Beschüsse als voll¬
kommen frei; allein nur auf Grundlage und innerhalb des Bereiches der von
der Negierung octroyirten allgemeinen Principien. Diese laufen jedoch nicht
daraus hinaus, den Adel als politischen Stand anzuerkennen — wie Alezan¬
der der Erste wollte; auch nicht darauf, als politischen Gegensatz zum adligen
Grundbesitz einen vom flottirenden Vermögen bedingten Bürgerstand empor-
zuzaubern — wie es Katharina erfolglos versuchte. Der heutige Autokratis-
wus kann dieses Mittelglied der Gescllschaftsgliederung um so eher über¬
springen, als es im russischen Nationalcharakter keine Begründung findet und
auch nur ein fast verschwindendes Vruchtheil der Gesammtbevölkerung ausmacht.
Er stellt überhaupt dem Adel keine politische Corporation gegenüber, sondern
dem adligen Grundbesitzrecht die Freiheit der productiven Arbeit. Die freien
Arbeiter sollen die Masse sein, auf welche sich der neurussische Neformabso-
lutismus fraglos stützen kann. Das neue Princip des Autokratismus heißt
nicht: Vernichtung aller Stände, sondern Paralysirung des besitzenden
Standes durch die von der Negierung gehandhabten Arbeiter. Der Gegensatz
findet seinen Schwerpunkt nicht in ideellen und beziehentlich politischen Rech¬
ten, sondern in den materiellen Interessen.

Daß sich aus den freiwerdenden Arbeitermassen ein Stand herausbil¬
den kann, unterliegt keinem Zweifel. Allein er entsteht voraussichtlich nicht


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[0425] Massen einigermaßen gemildert, und zwar insofern, als sie im Dienste für den Kriegszweck neue Anerkennungen ihres berechtigten Anspruchs auf socialpolitische Besserstellung errungen hatten. Die von Nikolaus (wol nur als Mittel zur Aneiferung der kriegerischen Opferfreudigkeit) in Aussicht gestellten socialen Ver¬ besserungen waren schon im Friedcnsprogramm Alexander des Zweiten als Zweck ausgenommen und vom Gnadenmanifest bei der Krönung nach einzelnen Richtungen hin vorbereitend angebahnt. Das frühere Princip der gleichmäßigen Vernichtung aller Stande hatte sich unproduktiv für die Zwecke der materiellen Entwicklung, der innern Er- kräftigung des Reichs erwiesen; Alexanders des Ersten doctrinärer Versuch, einer völlig freien Initiative des Adels die Erschaffung der Bauernfreiheit an¬ heimzustellen, hatte den Beweis geführt, daß die russische Aristokratie dafür weder humane Bildung noch politischen Calcul genug besaß; Nikolaus des Ersten „Baucrnverbesscrungen" hatten den Grundbesitz ruinirt, ohne die freie Arbeit sich selbstständig entwickeln zu lassen, und waren deshalb vom national- ökonomischen Ziel der Emancipation nur weiter weggerückt. Alle diese Erfahrungen zusammenfassend entstand der neue Emancipationsplan. Er überließ formell dem Grundadel die Initiative, erkannte also dadurch seinen corporativen Bestand an. Er berechtigte serner die Adelscorporation politisch lui twe; denn er gestand ihr das Recht der mitbedingenden Berathung des Emanci- pationswcrkes zu. Er bezeichnete diese Berathungen und deren Beschüsse als voll¬ kommen frei; allein nur auf Grundlage und innerhalb des Bereiches der von der Negierung octroyirten allgemeinen Principien. Diese laufen jedoch nicht daraus hinaus, den Adel als politischen Stand anzuerkennen — wie Alezan¬ der der Erste wollte; auch nicht darauf, als politischen Gegensatz zum adligen Grundbesitz einen vom flottirenden Vermögen bedingten Bürgerstand empor- zuzaubern — wie es Katharina erfolglos versuchte. Der heutige Autokratis- wus kann dieses Mittelglied der Gescllschaftsgliederung um so eher über¬ springen, als es im russischen Nationalcharakter keine Begründung findet und auch nur ein fast verschwindendes Vruchtheil der Gesammtbevölkerung ausmacht. Er stellt überhaupt dem Adel keine politische Corporation gegenüber, sondern dem adligen Grundbesitzrecht die Freiheit der productiven Arbeit. Die freien Arbeiter sollen die Masse sein, auf welche sich der neurussische Neformabso- lutismus fraglos stützen kann. Das neue Princip des Autokratismus heißt nicht: Vernichtung aller Stände, sondern Paralysirung des besitzenden Standes durch die von der Negierung gehandhabten Arbeiter. Der Gegensatz findet seinen Schwerpunkt nicht in ideellen und beziehentlich politischen Rech¬ ten, sondern in den materiellen Interessen. Daß sich aus den freiwerdenden Arbeitermassen ein Stand herausbil¬ den kann, unterliegt keinem Zweifel. Allein er entsteht voraussichtlich nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/425>, abgerufen am 24.07.2024.