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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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sich nur allzuleicht des Vorzugs verlustig machen will, beim Emancipations¬
werk die Rechte und Entschädigungen seiner eignen Verhältnisse zu vertreten.

Denn daß die Negierung an die Einleitung der Bauernemancipation ge¬
treten war, wußte man bereits allgemein, als der Contractabschluß wegen des
Eisenbahnbaues erfolgte. Die Presse hatte dies unter russischen Verhältnissen
durch Gogols und seiner Nachtreter Schriften sattsam angedeutet. Es war
unmöglich, diese Erzählungen, Novellen, Anekdoten und Gedichte A, la, Bcecher-
Stowe für rein literarische Productionen zu nehmen; es waren gouverne-
mental gestattete Pulsfühler, und um so deutlicher, als die Censur, trotz der
angeblich freiern Bewegung der Literatur, keine ernstere Arbeit über die Lö¬
sung der Leibeigenschaftsfrage passiren ließ. Daß auch keine leiseste Andeu¬
tung darüber verlautete, aus welchem Wege die Regierung vorzugehen gedenke,
steigerte die gespannten Erwartungen und verhinderte gleichzeitig eine vorsorg¬
liche Stellungnahme der Interessenten. Die Vermuthung schwankte zwischen
der doppelten Fragstellung: ob Alexander der Zweite, wie Nikolaus, damit
zugleich das Ziel der völligen Vernichtung der Grundaristokratie als körper¬
schaftliches Element verfolgen wolle, oder ob er, wie Alexander der Erste, dem
Adelkörper die Bauernemancipation nach Initiative und Durchführung voll¬
kommen selbstständig überlassen wolle? Daran hatte man jedoch nicht gedacht,
daß jetzt großentheils andere Voraussetzungen zu Thatsachen geworden waren,
darum ward ein dritter Weg möglich. Seit Peter dem Ersten, ja seit Iwan
dem Ersten und Zweiten scheiterten auch die besten socialreformatorischen Ten¬
denzen des Zarenthums immer daran, daß dasselbe zu Gunsten seiner eigenen
Machtvollkommenheit alle corporativen Elemente zu zerbröckeln oder gewalt¬
sam zu vernichten strebte. Denn eben dadurch hatte sich der Absolutismus
für jede große Einwirkung auf die innern Entwicklungen unmöglich gemacht,
weil er alle Elemente der Bevölkerung in die Opposition gegen den refor-
mirenden Zaren drängte. Das Zarcnthum besaß während dieser ganzen
Zeit, außer den unproductiven Massen der Tschinownits und der Armee nie¬
mals einen Stand, auf welchen es sich gegen die Vorurtheile, Mängel und
Mißbräuche im socialen und politischen Staatsleben stützen konnte. Jene
beiden Massen blieben jedoch stets unzuverlässig, weil sie selber kein unmittel¬
bares Interesse an socialpolitischen Veränderungen haben können, vielmehr
auch sür sich mancherlei Einbuße dabei fürchten müssen. Alexander der Zweite
fand nun den Besitzadel durch seinen kaiserlichen Vorgänger materiell aufs
äußerste geschwächt, corporatio zersprengt vor; hatte er sich auch während
des Krieges einigermaßen fühlen gelernt, so war mit dem Frieden doch der
innere Halt dieses Selbstgefühls wieder wesentlich gewichen. Seine Partei
war, wie früher gezeigt ist, als solche abermals zerfallen. Dagegen hatte
derselbe Krieg die gänzliche Geltungslosigkeit der nichtadligen, Bevölkerungs-


sich nur allzuleicht des Vorzugs verlustig machen will, beim Emancipations¬
werk die Rechte und Entschädigungen seiner eignen Verhältnisse zu vertreten.

Denn daß die Negierung an die Einleitung der Bauernemancipation ge¬
treten war, wußte man bereits allgemein, als der Contractabschluß wegen des
Eisenbahnbaues erfolgte. Die Presse hatte dies unter russischen Verhältnissen
durch Gogols und seiner Nachtreter Schriften sattsam angedeutet. Es war
unmöglich, diese Erzählungen, Novellen, Anekdoten und Gedichte A, la, Bcecher-
Stowe für rein literarische Productionen zu nehmen; es waren gouverne-
mental gestattete Pulsfühler, und um so deutlicher, als die Censur, trotz der
angeblich freiern Bewegung der Literatur, keine ernstere Arbeit über die Lö¬
sung der Leibeigenschaftsfrage passiren ließ. Daß auch keine leiseste Andeu¬
tung darüber verlautete, aus welchem Wege die Regierung vorzugehen gedenke,
steigerte die gespannten Erwartungen und verhinderte gleichzeitig eine vorsorg¬
liche Stellungnahme der Interessenten. Die Vermuthung schwankte zwischen
der doppelten Fragstellung: ob Alexander der Zweite, wie Nikolaus, damit
zugleich das Ziel der völligen Vernichtung der Grundaristokratie als körper¬
schaftliches Element verfolgen wolle, oder ob er, wie Alexander der Erste, dem
Adelkörper die Bauernemancipation nach Initiative und Durchführung voll¬
kommen selbstständig überlassen wolle? Daran hatte man jedoch nicht gedacht,
daß jetzt großentheils andere Voraussetzungen zu Thatsachen geworden waren,
darum ward ein dritter Weg möglich. Seit Peter dem Ersten, ja seit Iwan
dem Ersten und Zweiten scheiterten auch die besten socialreformatorischen Ten¬
denzen des Zarenthums immer daran, daß dasselbe zu Gunsten seiner eigenen
Machtvollkommenheit alle corporativen Elemente zu zerbröckeln oder gewalt¬
sam zu vernichten strebte. Denn eben dadurch hatte sich der Absolutismus
für jede große Einwirkung auf die innern Entwicklungen unmöglich gemacht,
weil er alle Elemente der Bevölkerung in die Opposition gegen den refor-
mirenden Zaren drängte. Das Zarcnthum besaß während dieser ganzen
Zeit, außer den unproductiven Massen der Tschinownits und der Armee nie¬
mals einen Stand, auf welchen es sich gegen die Vorurtheile, Mängel und
Mißbräuche im socialen und politischen Staatsleben stützen konnte. Jene
beiden Massen blieben jedoch stets unzuverlässig, weil sie selber kein unmittel¬
bares Interesse an socialpolitischen Veränderungen haben können, vielmehr
auch sür sich mancherlei Einbuße dabei fürchten müssen. Alexander der Zweite
fand nun den Besitzadel durch seinen kaiserlichen Vorgänger materiell aufs
äußerste geschwächt, corporatio zersprengt vor; hatte er sich auch während
des Krieges einigermaßen fühlen gelernt, so war mit dem Frieden doch der
innere Halt dieses Selbstgefühls wieder wesentlich gewichen. Seine Partei
war, wie früher gezeigt ist, als solche abermals zerfallen. Dagegen hatte
derselbe Krieg die gänzliche Geltungslosigkeit der nichtadligen, Bevölkerungs-


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[0424] sich nur allzuleicht des Vorzugs verlustig machen will, beim Emancipations¬ werk die Rechte und Entschädigungen seiner eignen Verhältnisse zu vertreten. Denn daß die Negierung an die Einleitung der Bauernemancipation ge¬ treten war, wußte man bereits allgemein, als der Contractabschluß wegen des Eisenbahnbaues erfolgte. Die Presse hatte dies unter russischen Verhältnissen durch Gogols und seiner Nachtreter Schriften sattsam angedeutet. Es war unmöglich, diese Erzählungen, Novellen, Anekdoten und Gedichte A, la, Bcecher- Stowe für rein literarische Productionen zu nehmen; es waren gouverne- mental gestattete Pulsfühler, und um so deutlicher, als die Censur, trotz der angeblich freiern Bewegung der Literatur, keine ernstere Arbeit über die Lö¬ sung der Leibeigenschaftsfrage passiren ließ. Daß auch keine leiseste Andeu¬ tung darüber verlautete, aus welchem Wege die Regierung vorzugehen gedenke, steigerte die gespannten Erwartungen und verhinderte gleichzeitig eine vorsorg¬ liche Stellungnahme der Interessenten. Die Vermuthung schwankte zwischen der doppelten Fragstellung: ob Alexander der Zweite, wie Nikolaus, damit zugleich das Ziel der völligen Vernichtung der Grundaristokratie als körper¬ schaftliches Element verfolgen wolle, oder ob er, wie Alexander der Erste, dem Adelkörper die Bauernemancipation nach Initiative und Durchführung voll¬ kommen selbstständig überlassen wolle? Daran hatte man jedoch nicht gedacht, daß jetzt großentheils andere Voraussetzungen zu Thatsachen geworden waren, darum ward ein dritter Weg möglich. Seit Peter dem Ersten, ja seit Iwan dem Ersten und Zweiten scheiterten auch die besten socialreformatorischen Ten¬ denzen des Zarenthums immer daran, daß dasselbe zu Gunsten seiner eigenen Machtvollkommenheit alle corporativen Elemente zu zerbröckeln oder gewalt¬ sam zu vernichten strebte. Denn eben dadurch hatte sich der Absolutismus für jede große Einwirkung auf die innern Entwicklungen unmöglich gemacht, weil er alle Elemente der Bevölkerung in die Opposition gegen den refor- mirenden Zaren drängte. Das Zarcnthum besaß während dieser ganzen Zeit, außer den unproductiven Massen der Tschinownits und der Armee nie¬ mals einen Stand, auf welchen es sich gegen die Vorurtheile, Mängel und Mißbräuche im socialen und politischen Staatsleben stützen konnte. Jene beiden Massen blieben jedoch stets unzuverlässig, weil sie selber kein unmittel¬ bares Interesse an socialpolitischen Veränderungen haben können, vielmehr auch sür sich mancherlei Einbuße dabei fürchten müssen. Alexander der Zweite fand nun den Besitzadel durch seinen kaiserlichen Vorgänger materiell aufs äußerste geschwächt, corporatio zersprengt vor; hatte er sich auch während des Krieges einigermaßen fühlen gelernt, so war mit dem Frieden doch der innere Halt dieses Selbstgefühls wieder wesentlich gewichen. Seine Partei war, wie früher gezeigt ist, als solche abermals zerfallen. Dagegen hatte derselbe Krieg die gänzliche Geltungslosigkeit der nichtadligen, Bevölkerungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/424>, abgerufen am 24.07.2024.