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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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kratischen Elemente wieder zum Selbstbewußtsein, ja zu bedeutendem politischen
Einfluß gelangt, waren in den Volksmassen Freiheitshoffnungen erweckt,
waren die Ordnungen des Staates und der verschiedenen Bevölkerungsclassen
bis zur völligen Erschütterung gelockert.

Der "Allerhöchste Wille" hätte allerdings selbst in diesem Momente den
Frieden annehmen können (die wiener Conferenzen begannen am 15. März
1855). Die gewohnten Zustände des Lebens im Reiche wären damit mög¬
licherweise zurückgekehrt. Allein der kriegerische Nationaladel hätte eine solche
Entschließung, ohne von seinen Ansprüchen etwas aufzugeben, einfach als
eine Maßregel des Zaren genommen, um mit der Zurückweisung seiner wei¬
teren Opfer auch seine Berechtigungen zu annulliren. Die Stimmung in den
bewaffneten Massen war zugleich derart, daß er dieselben mit Leichtigkeit
gegen den Zaren selber als einen Verächter des nationalen Geistes, wie der
Opserbercitschaft sür "das heilige Rußland und den Glauben" aufzureizen ver¬
mocht hätte. Die Art, wie die Kriegspartei schon immer den Großfürsten
Konstantin im Gegensatz zum Thronfolger als wahrhaft nationalgesinnt hin¬
gestellt und vorzudrängen gesucht hatte, ließ keinen Zweifel darüber, wessen
sie fähig sein würde. Die Volksmassen endlich, losgelöst von den gewohnten
Ordnungen (Kaiser Nikolaus hatte noch auf dem Sterbebett den Aufruf zur
allgemeinen Volksbewaffnung unterzeichnet), hatten Haus und Herd noch nicht
verlassen, die Beschwerden, Entbehrungen, Gefahren der unmittelbaren Theil¬
nahme am Kriege noch nicht durchgemacht und hielten doch bereits die Waf¬
fen in den Händen, mit denen sie eventuell die Erfüllung ihrer Freiheitshoff-
nungcn zu erzwingen versucht sein konnten.

So war im Momente des Thronwechsels die unbedingte Uebernahme der
Kricgscrbschast für den neuen Zaren eine Nothwendigkeit der Selbsterhaltung,
kein freier Entschluß. Dies selbst wenn man vollständig von denjenigen Nö¬
thigungen absieht, welche die äußere Politik auferlegte. Schon in dieser einen
Beziehung verwandelte sich also die Fortsetzung der Kricgspolitik aus einem
Staatszweck in ein Staatsmittel. Aber noch mehr. Je fester nun der
neue Kaiser an der Anbahnung des Friedens hielt, je zweifelloser sich ihm
überall die Ueberzeugung aufdrängte, daß Nußland auf die Dauer selbst M
Fortführung eines bloßen Defensivkrieges unfähig sei, so wie daß nur in
eiuer durchgreifenden Reformirung des volkswirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und Rechtslebens die Möglichkeit erschaffen werden könne, um das Reich in¬
nerlich aus diejenige Stufe der Macht zu heben, welche es im europäischen
System beansprucht und deren Vortheile ihm bis zum orientalischen Kriege
von allen Seiten so bereitwillig eingeräumt waren -- desto unbedingter mußte
die oberste Staatsgewalt den Krieg als bloßes Mittel zum Zweck behandeln-
Als Mittel nämlich zu dem Zweck, diejenigen Vorausse/zungen herzustelle


kratischen Elemente wieder zum Selbstbewußtsein, ja zu bedeutendem politischen
Einfluß gelangt, waren in den Volksmassen Freiheitshoffnungen erweckt,
waren die Ordnungen des Staates und der verschiedenen Bevölkerungsclassen
bis zur völligen Erschütterung gelockert.

Der „Allerhöchste Wille" hätte allerdings selbst in diesem Momente den
Frieden annehmen können (die wiener Conferenzen begannen am 15. März
1855). Die gewohnten Zustände des Lebens im Reiche wären damit mög¬
licherweise zurückgekehrt. Allein der kriegerische Nationaladel hätte eine solche
Entschließung, ohne von seinen Ansprüchen etwas aufzugeben, einfach als
eine Maßregel des Zaren genommen, um mit der Zurückweisung seiner wei¬
teren Opfer auch seine Berechtigungen zu annulliren. Die Stimmung in den
bewaffneten Massen war zugleich derart, daß er dieselben mit Leichtigkeit
gegen den Zaren selber als einen Verächter des nationalen Geistes, wie der
Opserbercitschaft sür „das heilige Rußland und den Glauben" aufzureizen ver¬
mocht hätte. Die Art, wie die Kriegspartei schon immer den Großfürsten
Konstantin im Gegensatz zum Thronfolger als wahrhaft nationalgesinnt hin¬
gestellt und vorzudrängen gesucht hatte, ließ keinen Zweifel darüber, wessen
sie fähig sein würde. Die Volksmassen endlich, losgelöst von den gewohnten
Ordnungen (Kaiser Nikolaus hatte noch auf dem Sterbebett den Aufruf zur
allgemeinen Volksbewaffnung unterzeichnet), hatten Haus und Herd noch nicht
verlassen, die Beschwerden, Entbehrungen, Gefahren der unmittelbaren Theil¬
nahme am Kriege noch nicht durchgemacht und hielten doch bereits die Waf¬
fen in den Händen, mit denen sie eventuell die Erfüllung ihrer Freiheitshoff-
nungcn zu erzwingen versucht sein konnten.

So war im Momente des Thronwechsels die unbedingte Uebernahme der
Kricgscrbschast für den neuen Zaren eine Nothwendigkeit der Selbsterhaltung,
kein freier Entschluß. Dies selbst wenn man vollständig von denjenigen Nö¬
thigungen absieht, welche die äußere Politik auferlegte. Schon in dieser einen
Beziehung verwandelte sich also die Fortsetzung der Kricgspolitik aus einem
Staatszweck in ein Staatsmittel. Aber noch mehr. Je fester nun der
neue Kaiser an der Anbahnung des Friedens hielt, je zweifelloser sich ihm
überall die Ueberzeugung aufdrängte, daß Nußland auf die Dauer selbst M
Fortführung eines bloßen Defensivkrieges unfähig sei, so wie daß nur in
eiuer durchgreifenden Reformirung des volkswirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und Rechtslebens die Möglichkeit erschaffen werden könne, um das Reich in¬
nerlich aus diejenige Stufe der Macht zu heben, welche es im europäischen
System beansprucht und deren Vortheile ihm bis zum orientalischen Kriege
von allen Seiten so bereitwillig eingeräumt waren — desto unbedingter mußte
die oberste Staatsgewalt den Krieg als bloßes Mittel zum Zweck behandeln-
Als Mittel nämlich zu dem Zweck, diejenigen Vorausse/zungen herzustelle


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[0334] kratischen Elemente wieder zum Selbstbewußtsein, ja zu bedeutendem politischen Einfluß gelangt, waren in den Volksmassen Freiheitshoffnungen erweckt, waren die Ordnungen des Staates und der verschiedenen Bevölkerungsclassen bis zur völligen Erschütterung gelockert. Der „Allerhöchste Wille" hätte allerdings selbst in diesem Momente den Frieden annehmen können (die wiener Conferenzen begannen am 15. März 1855). Die gewohnten Zustände des Lebens im Reiche wären damit mög¬ licherweise zurückgekehrt. Allein der kriegerische Nationaladel hätte eine solche Entschließung, ohne von seinen Ansprüchen etwas aufzugeben, einfach als eine Maßregel des Zaren genommen, um mit der Zurückweisung seiner wei¬ teren Opfer auch seine Berechtigungen zu annulliren. Die Stimmung in den bewaffneten Massen war zugleich derart, daß er dieselben mit Leichtigkeit gegen den Zaren selber als einen Verächter des nationalen Geistes, wie der Opserbercitschaft sür „das heilige Rußland und den Glauben" aufzureizen ver¬ mocht hätte. Die Art, wie die Kriegspartei schon immer den Großfürsten Konstantin im Gegensatz zum Thronfolger als wahrhaft nationalgesinnt hin¬ gestellt und vorzudrängen gesucht hatte, ließ keinen Zweifel darüber, wessen sie fähig sein würde. Die Volksmassen endlich, losgelöst von den gewohnten Ordnungen (Kaiser Nikolaus hatte noch auf dem Sterbebett den Aufruf zur allgemeinen Volksbewaffnung unterzeichnet), hatten Haus und Herd noch nicht verlassen, die Beschwerden, Entbehrungen, Gefahren der unmittelbaren Theil¬ nahme am Kriege noch nicht durchgemacht und hielten doch bereits die Waf¬ fen in den Händen, mit denen sie eventuell die Erfüllung ihrer Freiheitshoff- nungcn zu erzwingen versucht sein konnten. So war im Momente des Thronwechsels die unbedingte Uebernahme der Kricgscrbschast für den neuen Zaren eine Nothwendigkeit der Selbsterhaltung, kein freier Entschluß. Dies selbst wenn man vollständig von denjenigen Nö¬ thigungen absieht, welche die äußere Politik auferlegte. Schon in dieser einen Beziehung verwandelte sich also die Fortsetzung der Kricgspolitik aus einem Staatszweck in ein Staatsmittel. Aber noch mehr. Je fester nun der neue Kaiser an der Anbahnung des Friedens hielt, je zweifelloser sich ihm überall die Ueberzeugung aufdrängte, daß Nußland auf die Dauer selbst M Fortführung eines bloßen Defensivkrieges unfähig sei, so wie daß nur in eiuer durchgreifenden Reformirung des volkswirtschaftlichen, gesellschaftlichen und Rechtslebens die Möglichkeit erschaffen werden könne, um das Reich in¬ nerlich aus diejenige Stufe der Macht zu heben, welche es im europäischen System beansprucht und deren Vortheile ihm bis zum orientalischen Kriege von allen Seiten so bereitwillig eingeräumt waren — desto unbedingter mußte die oberste Staatsgewalt den Krieg als bloßes Mittel zum Zweck behandeln- Als Mittel nämlich zu dem Zweck, diejenigen Vorausse/zungen herzustelle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/334>, abgerufen am 24.07.2024.