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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Die sittliche und geschichtliche Gemeinschaft wird durch die freien Ge¬
meinden nicht gefördert, sondern gehemmt.

Die blinden Leidenschaften der Menschen richten sich mehr gegen Namen. Far¬
ben und Redensarten als gegen Sachen. Die Verfolgungen, denen einzelne freie
Gemeinden in den letzten Jahren ausgesetzt gewesen siud, erscheinen freilich ebenso
abgeschmackt als widerwärtig, aber sie zeigen doch, daß grade diese Methode der
äußerlichen Sonderung recht geeignet ist, den schlechtesten Fanatismus anzufachen.

Indeß könnte man sich über diese äußerlichen Nachtheile hinwegsetzen,
wenn durch die freien Gemeinden wirklich die Wahrheit und innere Ueberein¬
stimmung des Lebens gefördert würde; aber grade dagegen haben wir die
stärksten Bedenken. Es scheint uns, als ob die Führer der jungen Kirche,
so ehrlich sie es meinen, so begabt sie sein mögen, weder die Kraft zu einer
Reformation der Kirche, noch auch nur zur Gründung einer Sekte haben.
Diese Kraft hat nur der Inspirirte. Die deutsche Reformation wäre nie zu
Staude gekommen, wenn nicht ein Inspirirter. ein Mann, der den Ruf des
Herrn unmittelbar in sich vernahm, sie geleitet hätte. Zu allem andern reicht
Sie individuelle Kraft aus, wenn sie ihre Schranken richtig erwägt, aber nicht
zu einer religiösen Wiedergeburt.

Mau kann die äußerlichen Einrichtungen einer Kirche durch äußerliche
Gewalt modificiren, aber eine solche Reform ist im Protestantismus nicht
mehr nöthig; die protestantische Kirche hat kein einziges Institut, das sich
dem Fortschritt der Cultur wesentlich widersetzte; ja wir gehen weiter: sie hat
fast kein Institut, dessen die Cultur entbehren konnte. In ihrem dogmatischen
Inhalt ist vieles Unklare, dieses wird aber mehr und mehr entfernt, je
weniger man sich in theologische Grübeleien vertieft. Man erinnere sich
stets daran, daß die Kirche nicht blos sür den Gebildeten da ist, sondern für
die Gemeinschaft des Volks. Die Gemeinschaft des Volks wird aber nicht
vermittelt durch das geistvolle oder gelehrte Raisonnement, sondern durch das
Gewissen. Der Geistliche ist der sittliche Lehrer des Volks, dem der Gebildete
ebenso angehört als der Ungebildete.

Was das Verständniß der Sachlage so ungemein erschwert, ist der Um¬
stand, daß die religiösen Bewegungen der letzten Zeit durchweg von den gro¬
ßen Städten ausgehn. Hier ist es leicht, einen Kreis von Gebildeten und
Halbgebildeten zusammenzubringen, die in ihrer Weise über Religion nach¬
gedacht und, was das Christenthum etwa an ihnen versäumt, durch die classische
Gymnasialbildung ersetzt haben. In einem solchen Kreise kann der Prediger
ohne Uebelstand als der Erste unter seines Gleichen erscheinen, er kann seinen
überlegnen Verstand und seine überlegne Bildung geltend machen, er kann aber
auch seine Ueberzeugung durch motivirte Einwürfe der Gemeindemitglieder er¬
gänzen und berichtigen. <


Die sittliche und geschichtliche Gemeinschaft wird durch die freien Ge¬
meinden nicht gefördert, sondern gehemmt.

Die blinden Leidenschaften der Menschen richten sich mehr gegen Namen. Far¬
ben und Redensarten als gegen Sachen. Die Verfolgungen, denen einzelne freie
Gemeinden in den letzten Jahren ausgesetzt gewesen siud, erscheinen freilich ebenso
abgeschmackt als widerwärtig, aber sie zeigen doch, daß grade diese Methode der
äußerlichen Sonderung recht geeignet ist, den schlechtesten Fanatismus anzufachen.

Indeß könnte man sich über diese äußerlichen Nachtheile hinwegsetzen,
wenn durch die freien Gemeinden wirklich die Wahrheit und innere Ueberein¬
stimmung des Lebens gefördert würde; aber grade dagegen haben wir die
stärksten Bedenken. Es scheint uns, als ob die Führer der jungen Kirche,
so ehrlich sie es meinen, so begabt sie sein mögen, weder die Kraft zu einer
Reformation der Kirche, noch auch nur zur Gründung einer Sekte haben.
Diese Kraft hat nur der Inspirirte. Die deutsche Reformation wäre nie zu
Staude gekommen, wenn nicht ein Inspirirter. ein Mann, der den Ruf des
Herrn unmittelbar in sich vernahm, sie geleitet hätte. Zu allem andern reicht
Sie individuelle Kraft aus, wenn sie ihre Schranken richtig erwägt, aber nicht
zu einer religiösen Wiedergeburt.

Mau kann die äußerlichen Einrichtungen einer Kirche durch äußerliche
Gewalt modificiren, aber eine solche Reform ist im Protestantismus nicht
mehr nöthig; die protestantische Kirche hat kein einziges Institut, das sich
dem Fortschritt der Cultur wesentlich widersetzte; ja wir gehen weiter: sie hat
fast kein Institut, dessen die Cultur entbehren konnte. In ihrem dogmatischen
Inhalt ist vieles Unklare, dieses wird aber mehr und mehr entfernt, je
weniger man sich in theologische Grübeleien vertieft. Man erinnere sich
stets daran, daß die Kirche nicht blos sür den Gebildeten da ist, sondern für
die Gemeinschaft des Volks. Die Gemeinschaft des Volks wird aber nicht
vermittelt durch das geistvolle oder gelehrte Raisonnement, sondern durch das
Gewissen. Der Geistliche ist der sittliche Lehrer des Volks, dem der Gebildete
ebenso angehört als der Ungebildete.

Was das Verständniß der Sachlage so ungemein erschwert, ist der Um¬
stand, daß die religiösen Bewegungen der letzten Zeit durchweg von den gro¬
ßen Städten ausgehn. Hier ist es leicht, einen Kreis von Gebildeten und
Halbgebildeten zusammenzubringen, die in ihrer Weise über Religion nach¬
gedacht und, was das Christenthum etwa an ihnen versäumt, durch die classische
Gymnasialbildung ersetzt haben. In einem solchen Kreise kann der Prediger
ohne Uebelstand als der Erste unter seines Gleichen erscheinen, er kann seinen
überlegnen Verstand und seine überlegne Bildung geltend machen, er kann aber
auch seine Ueberzeugung durch motivirte Einwürfe der Gemeindemitglieder er¬
gänzen und berichtigen. <


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[0024] Die sittliche und geschichtliche Gemeinschaft wird durch die freien Ge¬ meinden nicht gefördert, sondern gehemmt. Die blinden Leidenschaften der Menschen richten sich mehr gegen Namen. Far¬ ben und Redensarten als gegen Sachen. Die Verfolgungen, denen einzelne freie Gemeinden in den letzten Jahren ausgesetzt gewesen siud, erscheinen freilich ebenso abgeschmackt als widerwärtig, aber sie zeigen doch, daß grade diese Methode der äußerlichen Sonderung recht geeignet ist, den schlechtesten Fanatismus anzufachen. Indeß könnte man sich über diese äußerlichen Nachtheile hinwegsetzen, wenn durch die freien Gemeinden wirklich die Wahrheit und innere Ueberein¬ stimmung des Lebens gefördert würde; aber grade dagegen haben wir die stärksten Bedenken. Es scheint uns, als ob die Führer der jungen Kirche, so ehrlich sie es meinen, so begabt sie sein mögen, weder die Kraft zu einer Reformation der Kirche, noch auch nur zur Gründung einer Sekte haben. Diese Kraft hat nur der Inspirirte. Die deutsche Reformation wäre nie zu Staude gekommen, wenn nicht ein Inspirirter. ein Mann, der den Ruf des Herrn unmittelbar in sich vernahm, sie geleitet hätte. Zu allem andern reicht Sie individuelle Kraft aus, wenn sie ihre Schranken richtig erwägt, aber nicht zu einer religiösen Wiedergeburt. Mau kann die äußerlichen Einrichtungen einer Kirche durch äußerliche Gewalt modificiren, aber eine solche Reform ist im Protestantismus nicht mehr nöthig; die protestantische Kirche hat kein einziges Institut, das sich dem Fortschritt der Cultur wesentlich widersetzte; ja wir gehen weiter: sie hat fast kein Institut, dessen die Cultur entbehren konnte. In ihrem dogmatischen Inhalt ist vieles Unklare, dieses wird aber mehr und mehr entfernt, je weniger man sich in theologische Grübeleien vertieft. Man erinnere sich stets daran, daß die Kirche nicht blos sür den Gebildeten da ist, sondern für die Gemeinschaft des Volks. Die Gemeinschaft des Volks wird aber nicht vermittelt durch das geistvolle oder gelehrte Raisonnement, sondern durch das Gewissen. Der Geistliche ist der sittliche Lehrer des Volks, dem der Gebildete ebenso angehört als der Ungebildete. Was das Verständniß der Sachlage so ungemein erschwert, ist der Um¬ stand, daß die religiösen Bewegungen der letzten Zeit durchweg von den gro¬ ßen Städten ausgehn. Hier ist es leicht, einen Kreis von Gebildeten und Halbgebildeten zusammenzubringen, die in ihrer Weise über Religion nach¬ gedacht und, was das Christenthum etwa an ihnen versäumt, durch die classische Gymnasialbildung ersetzt haben. In einem solchen Kreise kann der Prediger ohne Uebelstand als der Erste unter seines Gleichen erscheinen, er kann seinen überlegnen Verstand und seine überlegne Bildung geltend machen, er kann aber auch seine Ueberzeugung durch motivirte Einwürfe der Gemeindemitglieder er¬ gänzen und berichtigen. <

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/24>, abgerufen am 24.07.2024.