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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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können im Einzelnen erweitert und vervollkommnet, aber in ihrem Kern nicht
mehr umgestaltet werden.

Indessen hatte sie für die nächste Zeit auch ihre bedenklichen Nachwir¬
kungen.

Indem jeder Einzelne ein Priester sein und sich durch den Glauben mit
Gott versöhnen sollte, brachte es die gelehrte philologische Richtung des
16. Jahrhunderts mit sich, daß man unter dem Pnestcrthum Theologie, unter
dem Glauben Wortglüubigkeit verstehn zu müssen meinte. Jeder Einzelne
glaubte die Verpflichtung zu haben, sich den Katechismus auf seine eigne
Weise auszulegen, sich Gedanken über das Verhältniß der drei Personen zu
machen, und diese Gedanken durch irgend einen Bibelvcrs zu belegen. Zwei
Jahrhunderte hindurch hat namentlich in Deutschland alle Welt Theologie ge¬
trieben; die Wissenschaft und Kunst ist dadurch heruntergekommen, und selbst
als im 18. Jahrhundert ein besserer Tag anbrach, schlich sich die Theologie
in alle Bestrebungen ein -- denn die Nationalisten dogmatisirten grade wie
ihre Gegner; bis endlich durch Herder, Kant und Schleiermacher die Reli¬
giosität aus dem Gebiet des Raisonnements in das Gebiet des Empfindens
und des Willens übergclenkt wurde. Leider waren die großen Werke dieser
Meister für ihre Nachfolger nicht maßgebend. Wie die Scholastiker des
Mittelalters deducirten die Schcllingianer und Hegelianer den Katechismus
wieder aus Kategorien der reinen Vernunft, und das theologische Raisonne-
ment brach von neuem los: es hieß zwar nicht mehr Homousius und Homoiu-
sius, aber nun sollte jedermann darüber im Klaren sein, welche Person an
sich, welche für sich, und welche an und sür sich wäre. Diese geistreiche
Untersuchung hat unsern Professoren und Studenten viel Kopfzerbrechen ge¬
kostet.

Man kann nicht leugnen, daß gegenwärtig ein neuer Tag beginnt. Man
bezeichnet die neue Richtung gewöhnlich, nach einer häßlichen Ausartung der¬
selben, mit dem Ausdruck Materialismus; wir würden den Ausdruck Realis¬
mus vorziehn, lassen aber auch den ersten gelten, falls man ihn nur richtig
versteht. Wir beschäftigen uns jetzt mit Materien, mit Sachen, nicht mehr
mit Phrasen. Es ist sehr zweckmäßig, daß sich die Naturwissenschaft gegen¬
wärtig mit der wirklichen Natur zu thun macht und nicht mit der heiligen
Dreifaltigkeit; es ist sehr zweckmäßig, daß sich der Geschichtschreiber die Ar¬
chive ausschließen läßt, um zu erfahren, was wirklich vorgegangen ist, anstatt
sich über den Plan des an sich, für sich und an und für sich seienden Wesens
in müßige Grübeleien zu vertiefen; und so in allen Fächern. Mit einem
Wort, wir nehmen die Freiheit des Laienthums wieder in vollstem Maße für
uns in Anspruch; wir wollen aufhören, Theologen zu sein, wir wollen die
Natur und die Geschichte objectiv untersuchen, ohne damit für oder wider


können im Einzelnen erweitert und vervollkommnet, aber in ihrem Kern nicht
mehr umgestaltet werden.

Indessen hatte sie für die nächste Zeit auch ihre bedenklichen Nachwir¬
kungen.

Indem jeder Einzelne ein Priester sein und sich durch den Glauben mit
Gott versöhnen sollte, brachte es die gelehrte philologische Richtung des
16. Jahrhunderts mit sich, daß man unter dem Pnestcrthum Theologie, unter
dem Glauben Wortglüubigkeit verstehn zu müssen meinte. Jeder Einzelne
glaubte die Verpflichtung zu haben, sich den Katechismus auf seine eigne
Weise auszulegen, sich Gedanken über das Verhältniß der drei Personen zu
machen, und diese Gedanken durch irgend einen Bibelvcrs zu belegen. Zwei
Jahrhunderte hindurch hat namentlich in Deutschland alle Welt Theologie ge¬
trieben; die Wissenschaft und Kunst ist dadurch heruntergekommen, und selbst
als im 18. Jahrhundert ein besserer Tag anbrach, schlich sich die Theologie
in alle Bestrebungen ein — denn die Nationalisten dogmatisirten grade wie
ihre Gegner; bis endlich durch Herder, Kant und Schleiermacher die Reli¬
giosität aus dem Gebiet des Raisonnements in das Gebiet des Empfindens
und des Willens übergclenkt wurde. Leider waren die großen Werke dieser
Meister für ihre Nachfolger nicht maßgebend. Wie die Scholastiker des
Mittelalters deducirten die Schcllingianer und Hegelianer den Katechismus
wieder aus Kategorien der reinen Vernunft, und das theologische Raisonne-
ment brach von neuem los: es hieß zwar nicht mehr Homousius und Homoiu-
sius, aber nun sollte jedermann darüber im Klaren sein, welche Person an
sich, welche für sich, und welche an und sür sich wäre. Diese geistreiche
Untersuchung hat unsern Professoren und Studenten viel Kopfzerbrechen ge¬
kostet.

Man kann nicht leugnen, daß gegenwärtig ein neuer Tag beginnt. Man
bezeichnet die neue Richtung gewöhnlich, nach einer häßlichen Ausartung der¬
selben, mit dem Ausdruck Materialismus; wir würden den Ausdruck Realis¬
mus vorziehn, lassen aber auch den ersten gelten, falls man ihn nur richtig
versteht. Wir beschäftigen uns jetzt mit Materien, mit Sachen, nicht mehr
mit Phrasen. Es ist sehr zweckmäßig, daß sich die Naturwissenschaft gegen¬
wärtig mit der wirklichen Natur zu thun macht und nicht mit der heiligen
Dreifaltigkeit; es ist sehr zweckmäßig, daß sich der Geschichtschreiber die Ar¬
chive ausschließen läßt, um zu erfahren, was wirklich vorgegangen ist, anstatt
sich über den Plan des an sich, für sich und an und für sich seienden Wesens
in müßige Grübeleien zu vertiefen; und so in allen Fächern. Mit einem
Wort, wir nehmen die Freiheit des Laienthums wieder in vollstem Maße für
uns in Anspruch; wir wollen aufhören, Theologen zu sein, wir wollen die
Natur und die Geschichte objectiv untersuchen, ohne damit für oder wider


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/22>, abgerufen am 24.07.2024.