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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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sich ausbreitete. Wahrlich, hiev mochte manches Philologcnherz im Stillen
der modernen Industrie das ihr gethane Unrecht abbitten und anerkennen,
daß auch sie zur Erfrischung und Erhebung des menschlichen Geistes ihr Theil
beitragen könne. Nach vierstündiger Fahrt war der höchste Punkt der ganzen
Strecke, die Station Semmering, erreicht. Von da durchflog man nur noch
den langen Tunnel, der unter der Pahhöhe fort auf die steirische Seite hin¬
überführt, um einen Blick in das weithin sich erstreckende freundliche Mürzthnl
zu gewinnen, und machte dann den Rückweg über den Berg zu Fuße. In¬
zwischen waren unter und neben der Halle des einsamen Statioushauses zu
Semmering gedeckte Tische aufgeschlagen worden, an denen jeder einen Plus
suchte, um durch Speise und Trank sich sür die Heimfahrt zu stärken. Die
Conjectur einiger mehr gastronomischen als philologischen Kritiker, es möäite
der auf diesem Raume unumschränkt gebietende Restaurateur den Wünschen
des gastfreien Comitäs nicht ganz entsprochen haben, störte den Frohsinn der
Gesellschaft nicht: wußte man doch, daß man dreitausend Fuß über de">
Meer in abgelegener Gebirgsgegend sich befand, und hob doch der Reichthw"
der vorangegangenen Eindrücke die allgemeine Stimmung. Wieder ließ der
Mäunergcsnngvcrein seine kräftigen Lieder erschallen, in welche allmälig die
ganze Versammlung einfiel: so ertönte aus mehren hundert vollen Kehlen el"
heitres Lied nach dem andern, unter deuen weder des Deutschen Vaterland
noch das Gaudeamus fehlte. Unversehens schlug die Abschiedsstunde, und
der einbrechende Abend fand die> reich befriedigten Luftfahrer wieder in Wien>

Führte der zweite Versammlungstag den Philologen eine der besten Schöp'
sungen Oestreichs vor. so wurde am dritten die Glanzseite Wiens benutzt,
würdig zu unterhalten: denn am Abend dieses Tages wurde für sie eine Fe^
Vorstellung im Kürnthnerthorthcater veranstaltet. Wol schüttelte mancher de"
Kops, als er hörte, daß auf den dingenden Wunsch des Grafen Thun, ^
den einheimischen Dichter geehrt sehn wollte, Halms Iphigenia in Delp!^
Gegenstand der Aufführung sein solle; jedoch zeigte sich, daß die Wahl
einer Beziehung keine ungeschickte war. Das an dramatischer Entwicklung
arme Stück bot den Kräften der Schauspieler im hohen Grade Gelegenhe^
sich zu entfalten. Schwerlich hat einer der ältern Fcstgcnosscn jemals ein^
vollendeteren, schwerlich einer der jüngern einer auch nur annähernd so ip
lungenen Darstellung beigewohnt. Besonders traten die Damen Frau Nee^
(Elektra), Frau Hebbel (Pythia) und Fräulein Nudloff (Iphigenia) servo>-
von denen letztere von Prag gekommen war, um mitzuwirken. Neben den'
unvergleichlichen Klänge des Organs, wodurch namentlich Frau Rettig se
auszeichnet, war es nicht allein die Sicherheit und Angemessenheit des B"'
trags, nicht allein die saubere Stilisirung der einzelnen Rollen, was die
Schauer entzückte; es war vor allem die plastische Rundung der Gruppen,


sich ausbreitete. Wahrlich, hiev mochte manches Philologcnherz im Stillen
der modernen Industrie das ihr gethane Unrecht abbitten und anerkennen,
daß auch sie zur Erfrischung und Erhebung des menschlichen Geistes ihr Theil
beitragen könne. Nach vierstündiger Fahrt war der höchste Punkt der ganzen
Strecke, die Station Semmering, erreicht. Von da durchflog man nur noch
den langen Tunnel, der unter der Pahhöhe fort auf die steirische Seite hin¬
überführt, um einen Blick in das weithin sich erstreckende freundliche Mürzthnl
zu gewinnen, und machte dann den Rückweg über den Berg zu Fuße. In¬
zwischen waren unter und neben der Halle des einsamen Statioushauses zu
Semmering gedeckte Tische aufgeschlagen worden, an denen jeder einen Plus
suchte, um durch Speise und Trank sich sür die Heimfahrt zu stärken. Die
Conjectur einiger mehr gastronomischen als philologischen Kritiker, es möäite
der auf diesem Raume unumschränkt gebietende Restaurateur den Wünschen
des gastfreien Comitäs nicht ganz entsprochen haben, störte den Frohsinn der
Gesellschaft nicht: wußte man doch, daß man dreitausend Fuß über de»>
Meer in abgelegener Gebirgsgegend sich befand, und hob doch der Reichthw»
der vorangegangenen Eindrücke die allgemeine Stimmung. Wieder ließ der
Mäunergcsnngvcrein seine kräftigen Lieder erschallen, in welche allmälig die
ganze Versammlung einfiel: so ertönte aus mehren hundert vollen Kehlen el»
heitres Lied nach dem andern, unter deuen weder des Deutschen Vaterland
noch das Gaudeamus fehlte. Unversehens schlug die Abschiedsstunde, und
der einbrechende Abend fand die> reich befriedigten Luftfahrer wieder in Wien>

Führte der zweite Versammlungstag den Philologen eine der besten Schöp'
sungen Oestreichs vor. so wurde am dritten die Glanzseite Wiens benutzt,
würdig zu unterhalten: denn am Abend dieses Tages wurde für sie eine Fe^
Vorstellung im Kürnthnerthorthcater veranstaltet. Wol schüttelte mancher de»
Kops, als er hörte, daß auf den dingenden Wunsch des Grafen Thun, ^
den einheimischen Dichter geehrt sehn wollte, Halms Iphigenia in Delp!^
Gegenstand der Aufführung sein solle; jedoch zeigte sich, daß die Wahl
einer Beziehung keine ungeschickte war. Das an dramatischer Entwicklung
arme Stück bot den Kräften der Schauspieler im hohen Grade Gelegenhe^
sich zu entfalten. Schwerlich hat einer der ältern Fcstgcnosscn jemals ein^
vollendeteren, schwerlich einer der jüngern einer auch nur annähernd so ip
lungenen Darstellung beigewohnt. Besonders traten die Damen Frau Nee^
(Elektra), Frau Hebbel (Pythia) und Fräulein Nudloff (Iphigenia) servo>-
von denen letztere von Prag gekommen war, um mitzuwirken. Neben den'
unvergleichlichen Klänge des Organs, wodurch namentlich Frau Rettig se
auszeichnet, war es nicht allein die Sicherheit und Angemessenheit des B"'
trags, nicht allein die saubere Stilisirung der einzelnen Rollen, was die
Schauer entzückte; es war vor allem die plastische Rundung der Gruppen,


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[0194] sich ausbreitete. Wahrlich, hiev mochte manches Philologcnherz im Stillen der modernen Industrie das ihr gethane Unrecht abbitten und anerkennen, daß auch sie zur Erfrischung und Erhebung des menschlichen Geistes ihr Theil beitragen könne. Nach vierstündiger Fahrt war der höchste Punkt der ganzen Strecke, die Station Semmering, erreicht. Von da durchflog man nur noch den langen Tunnel, der unter der Pahhöhe fort auf die steirische Seite hin¬ überführt, um einen Blick in das weithin sich erstreckende freundliche Mürzthnl zu gewinnen, und machte dann den Rückweg über den Berg zu Fuße. In¬ zwischen waren unter und neben der Halle des einsamen Statioushauses zu Semmering gedeckte Tische aufgeschlagen worden, an denen jeder einen Plus suchte, um durch Speise und Trank sich sür die Heimfahrt zu stärken. Die Conjectur einiger mehr gastronomischen als philologischen Kritiker, es möäite der auf diesem Raume unumschränkt gebietende Restaurateur den Wünschen des gastfreien Comitäs nicht ganz entsprochen haben, störte den Frohsinn der Gesellschaft nicht: wußte man doch, daß man dreitausend Fuß über de»> Meer in abgelegener Gebirgsgegend sich befand, und hob doch der Reichthw» der vorangegangenen Eindrücke die allgemeine Stimmung. Wieder ließ der Mäunergcsnngvcrein seine kräftigen Lieder erschallen, in welche allmälig die ganze Versammlung einfiel: so ertönte aus mehren hundert vollen Kehlen el» heitres Lied nach dem andern, unter deuen weder des Deutschen Vaterland noch das Gaudeamus fehlte. Unversehens schlug die Abschiedsstunde, und der einbrechende Abend fand die> reich befriedigten Luftfahrer wieder in Wien> Führte der zweite Versammlungstag den Philologen eine der besten Schöp' sungen Oestreichs vor. so wurde am dritten die Glanzseite Wiens benutzt, würdig zu unterhalten: denn am Abend dieses Tages wurde für sie eine Fe^ Vorstellung im Kürnthnerthorthcater veranstaltet. Wol schüttelte mancher de» Kops, als er hörte, daß auf den dingenden Wunsch des Grafen Thun, ^ den einheimischen Dichter geehrt sehn wollte, Halms Iphigenia in Delp!^ Gegenstand der Aufführung sein solle; jedoch zeigte sich, daß die Wahl einer Beziehung keine ungeschickte war. Das an dramatischer Entwicklung arme Stück bot den Kräften der Schauspieler im hohen Grade Gelegenhe^ sich zu entfalten. Schwerlich hat einer der ältern Fcstgcnosscn jemals ein^ vollendeteren, schwerlich einer der jüngern einer auch nur annähernd so ip lungenen Darstellung beigewohnt. Besonders traten die Damen Frau Nee^ (Elektra), Frau Hebbel (Pythia) und Fräulein Nudloff (Iphigenia) servo>- von denen letztere von Prag gekommen war, um mitzuwirken. Neben den' unvergleichlichen Klänge des Organs, wodurch namentlich Frau Rettig se auszeichnet, war es nicht allein die Sicherheit und Angemessenheit des B"' trags, nicht allein die saubere Stilisirung der einzelnen Rollen, was die Schauer entzückte; es war vor allem die plastische Rundung der Gruppen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/194>, abgerufen am 24.07.2024.