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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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raktcristik seine Grenzen hat. Richtig angelegt war. so viel wir zu beobachten
Gelegenheit hatten, jeder Charakter. Zur vollständigen künstlerischen Geltung
Wu das Fach von Klärchen. Gretchen. Julien (also wahrscheinlich auch Des-
demona und die verwandten Rollen; Lady Macbeth haben wir nicht gesehn).
Schon etwas ferner liegt ihr das Schillersche Drama, und das Lustspiel und
das Salonstück bietet ihr keine Gelegenheit, ihre eigentliche tiefere Kraft zu
entfalten.

Bei dieser Aufmerksamkeit sowol auf das Detail als das Ganze der
Rolle haben wir zuweilen ein Mittleres vermißt, nämlich die Beachtung der
Stimmung, die in jeder Scene herrscht. Zuweilen kommt es vor. daß sie ein¬
zelne Worte, einzelne Nedenwendungen stark nüancirt. was zwar dem absoluten
Wortsinn nach richtig ist. auch nicht der Rolle im Ganzen widerspricht, wol
aber der Färbung der bestimmten Scene, gegen welche das einzelne Gefühl
in Schatten treten sollte. Als z. B. Gretchen von ihrem todten Schwesterchen
"zählt, läßt sie eine Trauer hervortreten, die hier nicht Hingehort; in der
Wahnsinnsscene nüancirt sie die Worte: durch das Brausen der Hölle u. s. w.
"hört ich den süßen Ton" mit einer Innigkeit, die hier nicht blos gegen
die reale, sondern auch gegen die künstlerische Farbe verstößt. Wir könnten
noch einige Beispiele anmerken, glauben aber daran genug zu haben, um in
dieser Hinsicht der von uns so hochgeehrten Künstlerin eine nochmalige Revi¬
sion ihrer Rollen zu empfehlen. Seltener, aber doch einigemal begegnet uns
"n anderer Fehler, daß der bürgerliche Ton. der Ton von Gretchen und
Klärchen in freilich gleichgültigen Bemerkungen einer Rolle hervortrat, die
diese Nuance eigentlich ausschließen sollte. Wenn wir dagegen über den Aus¬
druck einzelner Stellen mit ihr nicht ganz einig sind, so wollen wir dieses
Urtheil nicht als maßgebend aufstellen, denn bei dem gewissenhaften Nachdenken
unserer Künstlerin ist es möglich. daß wir bei einer zweiten Aufführung ihrer
subjectiven Auffassung Recht geben würden. Ein anderer Fehler, den man
ihr öfters vorwirft, daß sie übertreibt, ist in dieser Allgemeinheit zu unbestimmt
und in besondern Anwendungen, die wir zuweilen gehört haben, durchaus
unwahr. So finden wir z. B. ihr stummes Spiel höchst discret und maßvoll,
namentlich auch in der Rolle Gretchens. wo wir andere berühmte und un.
berühmte Schauspielerinnen tausend Allotria haben treiben sehn (z. B. das
beliebte Spiel mit dem Putz), die hier in der bescheidensten Weise nur ange¬
deutet wurden. Wenn man nun gar behauptet, daß sie in der freilich furcht¬
baren Wahnsinnsscene am Schluß zu stark aufträgt, so ist uns vollkommen
Unverständlich, was man damit meint: man müßte etwa von einer Kindes-
wörderin, die ihre Hinrichtung erwartet, und im Gefühl ihrer Schuld in Ra¬
serei verfallen ist. verlangen, sie solle sich gebährden wie eine verliebte Schäferin.

Bekanntlich hat Marie Seebach für die Scene mit dem bösen Geist den


raktcristik seine Grenzen hat. Richtig angelegt war. so viel wir zu beobachten
Gelegenheit hatten, jeder Charakter. Zur vollständigen künstlerischen Geltung
Wu das Fach von Klärchen. Gretchen. Julien (also wahrscheinlich auch Des-
demona und die verwandten Rollen; Lady Macbeth haben wir nicht gesehn).
Schon etwas ferner liegt ihr das Schillersche Drama, und das Lustspiel und
das Salonstück bietet ihr keine Gelegenheit, ihre eigentliche tiefere Kraft zu
entfalten.

Bei dieser Aufmerksamkeit sowol auf das Detail als das Ganze der
Rolle haben wir zuweilen ein Mittleres vermißt, nämlich die Beachtung der
Stimmung, die in jeder Scene herrscht. Zuweilen kommt es vor. daß sie ein¬
zelne Worte, einzelne Nedenwendungen stark nüancirt. was zwar dem absoluten
Wortsinn nach richtig ist. auch nicht der Rolle im Ganzen widerspricht, wol
aber der Färbung der bestimmten Scene, gegen welche das einzelne Gefühl
in Schatten treten sollte. Als z. B. Gretchen von ihrem todten Schwesterchen
"zählt, läßt sie eine Trauer hervortreten, die hier nicht Hingehort; in der
Wahnsinnsscene nüancirt sie die Worte: durch das Brausen der Hölle u. s. w.
»hört ich den süßen Ton" mit einer Innigkeit, die hier nicht blos gegen
die reale, sondern auch gegen die künstlerische Farbe verstößt. Wir könnten
noch einige Beispiele anmerken, glauben aber daran genug zu haben, um in
dieser Hinsicht der von uns so hochgeehrten Künstlerin eine nochmalige Revi¬
sion ihrer Rollen zu empfehlen. Seltener, aber doch einigemal begegnet uns
"n anderer Fehler, daß der bürgerliche Ton. der Ton von Gretchen und
Klärchen in freilich gleichgültigen Bemerkungen einer Rolle hervortrat, die
diese Nuance eigentlich ausschließen sollte. Wenn wir dagegen über den Aus¬
druck einzelner Stellen mit ihr nicht ganz einig sind, so wollen wir dieses
Urtheil nicht als maßgebend aufstellen, denn bei dem gewissenhaften Nachdenken
unserer Künstlerin ist es möglich. daß wir bei einer zweiten Aufführung ihrer
subjectiven Auffassung Recht geben würden. Ein anderer Fehler, den man
ihr öfters vorwirft, daß sie übertreibt, ist in dieser Allgemeinheit zu unbestimmt
und in besondern Anwendungen, die wir zuweilen gehört haben, durchaus
unwahr. So finden wir z. B. ihr stummes Spiel höchst discret und maßvoll,
namentlich auch in der Rolle Gretchens. wo wir andere berühmte und un.
berühmte Schauspielerinnen tausend Allotria haben treiben sehn (z. B. das
beliebte Spiel mit dem Putz), die hier in der bescheidensten Weise nur ange¬
deutet wurden. Wenn man nun gar behauptet, daß sie in der freilich furcht¬
baren Wahnsinnsscene am Schluß zu stark aufträgt, so ist uns vollkommen
Unverständlich, was man damit meint: man müßte etwa von einer Kindes-
wörderin, die ihre Hinrichtung erwartet, und im Gefühl ihrer Schuld in Ra¬
serei verfallen ist. verlangen, sie solle sich gebährden wie eine verliebte Schäferin.

Bekanntlich hat Marie Seebach für die Scene mit dem bösen Geist den


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[0083] raktcristik seine Grenzen hat. Richtig angelegt war. so viel wir zu beobachten Gelegenheit hatten, jeder Charakter. Zur vollständigen künstlerischen Geltung Wu das Fach von Klärchen. Gretchen. Julien (also wahrscheinlich auch Des- demona und die verwandten Rollen; Lady Macbeth haben wir nicht gesehn). Schon etwas ferner liegt ihr das Schillersche Drama, und das Lustspiel und das Salonstück bietet ihr keine Gelegenheit, ihre eigentliche tiefere Kraft zu entfalten. Bei dieser Aufmerksamkeit sowol auf das Detail als das Ganze der Rolle haben wir zuweilen ein Mittleres vermißt, nämlich die Beachtung der Stimmung, die in jeder Scene herrscht. Zuweilen kommt es vor. daß sie ein¬ zelne Worte, einzelne Nedenwendungen stark nüancirt. was zwar dem absoluten Wortsinn nach richtig ist. auch nicht der Rolle im Ganzen widerspricht, wol aber der Färbung der bestimmten Scene, gegen welche das einzelne Gefühl in Schatten treten sollte. Als z. B. Gretchen von ihrem todten Schwesterchen "zählt, läßt sie eine Trauer hervortreten, die hier nicht Hingehort; in der Wahnsinnsscene nüancirt sie die Worte: durch das Brausen der Hölle u. s. w. »hört ich den süßen Ton" mit einer Innigkeit, die hier nicht blos gegen die reale, sondern auch gegen die künstlerische Farbe verstößt. Wir könnten noch einige Beispiele anmerken, glauben aber daran genug zu haben, um in dieser Hinsicht der von uns so hochgeehrten Künstlerin eine nochmalige Revi¬ sion ihrer Rollen zu empfehlen. Seltener, aber doch einigemal begegnet uns "n anderer Fehler, daß der bürgerliche Ton. der Ton von Gretchen und Klärchen in freilich gleichgültigen Bemerkungen einer Rolle hervortrat, die diese Nuance eigentlich ausschließen sollte. Wenn wir dagegen über den Aus¬ druck einzelner Stellen mit ihr nicht ganz einig sind, so wollen wir dieses Urtheil nicht als maßgebend aufstellen, denn bei dem gewissenhaften Nachdenken unserer Künstlerin ist es möglich. daß wir bei einer zweiten Aufführung ihrer subjectiven Auffassung Recht geben würden. Ein anderer Fehler, den man ihr öfters vorwirft, daß sie übertreibt, ist in dieser Allgemeinheit zu unbestimmt und in besondern Anwendungen, die wir zuweilen gehört haben, durchaus unwahr. So finden wir z. B. ihr stummes Spiel höchst discret und maßvoll, namentlich auch in der Rolle Gretchens. wo wir andere berühmte und un. berühmte Schauspielerinnen tausend Allotria haben treiben sehn (z. B. das beliebte Spiel mit dem Putz), die hier in der bescheidensten Weise nur ange¬ deutet wurden. Wenn man nun gar behauptet, daß sie in der freilich furcht¬ baren Wahnsinnsscene am Schluß zu stark aufträgt, so ist uns vollkommen Unverständlich, was man damit meint: man müßte etwa von einer Kindes- wörderin, die ihre Hinrichtung erwartet, und im Gefühl ihrer Schuld in Ra¬ serei verfallen ist. verlangen, sie solle sich gebährden wie eine verliebte Schäferin. Bekanntlich hat Marie Seebach für die Scene mit dem bösen Geist den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/83>, abgerufen am 22.07.2024.