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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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einer mächtigen poetischen Bewegung leicht getragen, sie müssen sich mit An¬
strengung das Poetische in einem im Ganzen unproductiven Zeitalter er¬
kämpfen. Das ist nicht die Schuld des Künstlers, er wird von den positiven
Bedingungen seines Zeitalters bestimmt und seine Aufgabe kann nicht weiter
gestellt werden, als diese Bestimmungen in so idealer Form als möglich seiner
Natur anzupassen.

Dreierlei Umstände charakterisiren in Bezug aus den Schauspieler die
heutige Kunstperiode.

Einmal wird der Schauspieler von den Dichtern sehr wenig gefördert.
Zwar ist die Periode von 1839--1843 auch in Bezug auf das Theater viel
bedeutender als die von 1811--1839, und wenn die Stücke nur zum Lesen
geschrieben wären, so würde man aus diesem kurzen Zeitraum vielleicht immer
drei lesbare Stücke auf eines jener längern Periode rechnen können; ja auch das
theatralische Geschick in der Entwicklung der Handlung hat zugenommen. Aber für
den Charakterdarsteller ist sie entschieden ungünstiger, weil ihr Motiv (Aus¬
nahmen natürlich abgerechnet) die geistreiche Willkür ist. Die Classe der Geist,
reichen, der Dilettanten, der Genies, der Künstler, der Literaten u. s. w., die
vor fünfzig Jahren doch immer nur eine kleine Colonie in der Masse des
Philistertums bildete, hat sich seitdem in sehr bedenklicher Weise ausgebreitet
und die Dichter sind daher leicht versucht, alle ihre Figuren nach dem Schema
geistreicher Dilettanten zu entwerfen. Grade die talentvollsten und beliebtesten
unter unsern Theaterdichtern haben es namentlich in den Jahren 1339--48
so gemacht und dadurch im Anfang das Publicum sehr geblendet, aber doch
keine dauernden und lebendigen Figuren geschaffen. Die Franzosen haben für
den Schauspieler, der zuerst die Rolle eines Dichters aus dem geschriebenen
Wort in Fleisch und Blut überträgt, den zweckmäßigen Ausdruck: er schafft
die Rolle. Nun nenne man uns eine weibliche Figur von Gutzkow, Hebbel
oder Laube, die von einer Schauspielerin auf diese Weise geschaffen wäre oder
hätte geschaffen werden können. Und das sind die gefeiertsten Dichter dieser
Periode. Bei männlichen Rollen geht es eher, denn Männer haben doch
irgend eine andere Bestimmtheit; aber sobald Frauen überwiegend geistreich
sind, was man so geistreich nennt, hört in der Regel alle Natur bei ihnen
auf. Wie eine Schauspielerin eine geistreiche Frau darstellt, ist ganz gleich-
giltig, denn es ist in ihr keine innere Bestimmtheit.

Der schönste Beruf des darstellenden Künstlers also, neue Gestalten zu
schaffen, wird unsern heutigen Schauspielerinnen nur selten zu Theil. Der
Ruf, den sie erwerben, liegt fast durchweg in den ältern classischen Stücken.
Shakespeare, Goethe, Schiller, das ist die Welt unsrer heutigen Künstler,
wenn nicht etwa noch ein Virtuosenstück von Scribe oder der Birchpfeiffer dazu
kommt. Bei diesen classischen Rollen ist aber die Schauspielerin selten ganz


einer mächtigen poetischen Bewegung leicht getragen, sie müssen sich mit An¬
strengung das Poetische in einem im Ganzen unproductiven Zeitalter er¬
kämpfen. Das ist nicht die Schuld des Künstlers, er wird von den positiven
Bedingungen seines Zeitalters bestimmt und seine Aufgabe kann nicht weiter
gestellt werden, als diese Bestimmungen in so idealer Form als möglich seiner
Natur anzupassen.

Dreierlei Umstände charakterisiren in Bezug aus den Schauspieler die
heutige Kunstperiode.

Einmal wird der Schauspieler von den Dichtern sehr wenig gefördert.
Zwar ist die Periode von 1839—1843 auch in Bezug auf das Theater viel
bedeutender als die von 1811—1839, und wenn die Stücke nur zum Lesen
geschrieben wären, so würde man aus diesem kurzen Zeitraum vielleicht immer
drei lesbare Stücke auf eines jener längern Periode rechnen können; ja auch das
theatralische Geschick in der Entwicklung der Handlung hat zugenommen. Aber für
den Charakterdarsteller ist sie entschieden ungünstiger, weil ihr Motiv (Aus¬
nahmen natürlich abgerechnet) die geistreiche Willkür ist. Die Classe der Geist,
reichen, der Dilettanten, der Genies, der Künstler, der Literaten u. s. w., die
vor fünfzig Jahren doch immer nur eine kleine Colonie in der Masse des
Philistertums bildete, hat sich seitdem in sehr bedenklicher Weise ausgebreitet
und die Dichter sind daher leicht versucht, alle ihre Figuren nach dem Schema
geistreicher Dilettanten zu entwerfen. Grade die talentvollsten und beliebtesten
unter unsern Theaterdichtern haben es namentlich in den Jahren 1339—48
so gemacht und dadurch im Anfang das Publicum sehr geblendet, aber doch
keine dauernden und lebendigen Figuren geschaffen. Die Franzosen haben für
den Schauspieler, der zuerst die Rolle eines Dichters aus dem geschriebenen
Wort in Fleisch und Blut überträgt, den zweckmäßigen Ausdruck: er schafft
die Rolle. Nun nenne man uns eine weibliche Figur von Gutzkow, Hebbel
oder Laube, die von einer Schauspielerin auf diese Weise geschaffen wäre oder
hätte geschaffen werden können. Und das sind die gefeiertsten Dichter dieser
Periode. Bei männlichen Rollen geht es eher, denn Männer haben doch
irgend eine andere Bestimmtheit; aber sobald Frauen überwiegend geistreich
sind, was man so geistreich nennt, hört in der Regel alle Natur bei ihnen
auf. Wie eine Schauspielerin eine geistreiche Frau darstellt, ist ganz gleich-
giltig, denn es ist in ihr keine innere Bestimmtheit.

Der schönste Beruf des darstellenden Künstlers also, neue Gestalten zu
schaffen, wird unsern heutigen Schauspielerinnen nur selten zu Theil. Der
Ruf, den sie erwerben, liegt fast durchweg in den ältern classischen Stücken.
Shakespeare, Goethe, Schiller, das ist die Welt unsrer heutigen Künstler,
wenn nicht etwa noch ein Virtuosenstück von Scribe oder der Birchpfeiffer dazu
kommt. Bei diesen classischen Rollen ist aber die Schauspielerin selten ganz


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[0078] einer mächtigen poetischen Bewegung leicht getragen, sie müssen sich mit An¬ strengung das Poetische in einem im Ganzen unproductiven Zeitalter er¬ kämpfen. Das ist nicht die Schuld des Künstlers, er wird von den positiven Bedingungen seines Zeitalters bestimmt und seine Aufgabe kann nicht weiter gestellt werden, als diese Bestimmungen in so idealer Form als möglich seiner Natur anzupassen. Dreierlei Umstände charakterisiren in Bezug aus den Schauspieler die heutige Kunstperiode. Einmal wird der Schauspieler von den Dichtern sehr wenig gefördert. Zwar ist die Periode von 1839—1843 auch in Bezug auf das Theater viel bedeutender als die von 1811—1839, und wenn die Stücke nur zum Lesen geschrieben wären, so würde man aus diesem kurzen Zeitraum vielleicht immer drei lesbare Stücke auf eines jener längern Periode rechnen können; ja auch das theatralische Geschick in der Entwicklung der Handlung hat zugenommen. Aber für den Charakterdarsteller ist sie entschieden ungünstiger, weil ihr Motiv (Aus¬ nahmen natürlich abgerechnet) die geistreiche Willkür ist. Die Classe der Geist, reichen, der Dilettanten, der Genies, der Künstler, der Literaten u. s. w., die vor fünfzig Jahren doch immer nur eine kleine Colonie in der Masse des Philistertums bildete, hat sich seitdem in sehr bedenklicher Weise ausgebreitet und die Dichter sind daher leicht versucht, alle ihre Figuren nach dem Schema geistreicher Dilettanten zu entwerfen. Grade die talentvollsten und beliebtesten unter unsern Theaterdichtern haben es namentlich in den Jahren 1339—48 so gemacht und dadurch im Anfang das Publicum sehr geblendet, aber doch keine dauernden und lebendigen Figuren geschaffen. Die Franzosen haben für den Schauspieler, der zuerst die Rolle eines Dichters aus dem geschriebenen Wort in Fleisch und Blut überträgt, den zweckmäßigen Ausdruck: er schafft die Rolle. Nun nenne man uns eine weibliche Figur von Gutzkow, Hebbel oder Laube, die von einer Schauspielerin auf diese Weise geschaffen wäre oder hätte geschaffen werden können. Und das sind die gefeiertsten Dichter dieser Periode. Bei männlichen Rollen geht es eher, denn Männer haben doch irgend eine andere Bestimmtheit; aber sobald Frauen überwiegend geistreich sind, was man so geistreich nennt, hört in der Regel alle Natur bei ihnen auf. Wie eine Schauspielerin eine geistreiche Frau darstellt, ist ganz gleich- giltig, denn es ist in ihr keine innere Bestimmtheit. Der schönste Beruf des darstellenden Künstlers also, neue Gestalten zu schaffen, wird unsern heutigen Schauspielerinnen nur selten zu Theil. Der Ruf, den sie erwerben, liegt fast durchweg in den ältern classischen Stücken. Shakespeare, Goethe, Schiller, das ist die Welt unsrer heutigen Künstler, wenn nicht etwa noch ein Virtuosenstück von Scribe oder der Birchpfeiffer dazu kommt. Bei diesen classischen Rollen ist aber die Schauspielerin selten ganz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/78>, abgerufen am 22.07.2024.