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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Wir sind uns dieser Schwierigkeiten wohl bewußt, indem wir den Ver¬
such machen, von einer bedeutenden Künstlernatur einen Umriß zu geben.
Diese Schwierigkeit wird noch dadurch vermehrt, daß wir Marie Seebach nur
aus einem Gastspiel kennen, freilich aus einem sehr umfangreichen Gastspiel,
welches ihre bedeutendsten Rollen enthielt: allein vollständig lernt man den
Künstler doch nur in dem ruhigen Zusammenwirken mit der Bühne würdigen,
zu der er gehört. Jedes Gastspiel, schon weil es das Ensemble unterbricht,
hat etwas Unruhiges für den Darsteller wie für den Zuschauer; es ist doch
in jeder Persönlichkeit irgend etwas, woran man sich erst gewöhnen muß, um
den Kunstgenuß rein zu empfangen, und man hat alle Ursache vorsichtig zu
sein, ehe man . auch aus einem Cyklus von beiläufig zwanzig Vorstellungen
allgemeine Schlüsse zieht.

Marie Seebach wird durch die öffentliche Stimme unter den jetzt lebenden
und wirkenden Schauspielerinnen als die erste bezeichnet, und wir pflichten
diesem Urtheil vollkommen bei. Es ist ein hoher Genuß, wenn man daran
gewöhnt ist, Schauspielerinnen von mehr oder minder angenehmem Naturell
unter den verschiedensten Masken ganz unbefangen sich in ihrem eigenen
Wesen ergehen zu sehn, einmal im schroffen Gegensatz dazu eine echte Künstler¬
natur zu bewundern, die den ernsthaften Willen und die Kraft besitzt, aus
ihrer eignen Individualität herauszugehn und sich in die Figur zu verwan¬
deln, die der Dichter gewollt und gedacht hat. An jener Art von Schau¬
spielerinnen fehlt es nicht, unsere jungen Damen sind heute so liebenswürdig
Wie vor fünfzig, vor sechzig, vor hundert Jahren, und wenn man sich damals
an den Gurlis, an den Johannen von Montfaucon u. s. w. erfreute, so haben
wir in unsern Tagen das Lorle, die Grille und andere Rollen, zu deren Darstel¬
lung nur ein angenehmes Naturell gehört. Dazu kommt jetzt noch das große
Hilfsmittel des Schwäbelns, das immer reizend klingt, namentlich aus dem
Munde eines Nichtschwaben. Wenn sich Marie Seebach in diesem Genre
oder in dem des Salonstücks versucht, so wird sie, so anerkennenswert!) auch
hier ihre Leistungen sein mögen, leicht zu übertreffen sein; in dem Charakter¬
stück dagegen und namentlich in demjenigen, das eine tiefere Innigkeit der
Seele erfordert, eine Innigkeit, die von der gemüthlich angenehmen Oberfläche
Wohl zu unterscheiden ist, wird sie nicht leicht ihres Gleichen finden.

Auch die bedeutendsten Künstler werden die Spuren ihrer Zeit an sich
tragen, schon der Dichter, noch weit mehr der Schauspieler, dem der Stoff ja
überliefert werden muß. Vor einigen Jahren erschien in diesen Blättern ein
Porträt von Davison; so verschieden die Persönlichkeiten sind, so erinnert doch
wanches in dem Spiel der einen an die Art und Weise der andern und
vielleicht prägt sich in ihnen beiden der Charakter der gegenwärtigen Kunst¬
periode am schärfsten aus. Beide werden nicht von dem allgemeinen Strom


Grenzboten IV. 1859. ö

Wir sind uns dieser Schwierigkeiten wohl bewußt, indem wir den Ver¬
such machen, von einer bedeutenden Künstlernatur einen Umriß zu geben.
Diese Schwierigkeit wird noch dadurch vermehrt, daß wir Marie Seebach nur
aus einem Gastspiel kennen, freilich aus einem sehr umfangreichen Gastspiel,
welches ihre bedeutendsten Rollen enthielt: allein vollständig lernt man den
Künstler doch nur in dem ruhigen Zusammenwirken mit der Bühne würdigen,
zu der er gehört. Jedes Gastspiel, schon weil es das Ensemble unterbricht,
hat etwas Unruhiges für den Darsteller wie für den Zuschauer; es ist doch
in jeder Persönlichkeit irgend etwas, woran man sich erst gewöhnen muß, um
den Kunstgenuß rein zu empfangen, und man hat alle Ursache vorsichtig zu
sein, ehe man . auch aus einem Cyklus von beiläufig zwanzig Vorstellungen
allgemeine Schlüsse zieht.

Marie Seebach wird durch die öffentliche Stimme unter den jetzt lebenden
und wirkenden Schauspielerinnen als die erste bezeichnet, und wir pflichten
diesem Urtheil vollkommen bei. Es ist ein hoher Genuß, wenn man daran
gewöhnt ist, Schauspielerinnen von mehr oder minder angenehmem Naturell
unter den verschiedensten Masken ganz unbefangen sich in ihrem eigenen
Wesen ergehen zu sehn, einmal im schroffen Gegensatz dazu eine echte Künstler¬
natur zu bewundern, die den ernsthaften Willen und die Kraft besitzt, aus
ihrer eignen Individualität herauszugehn und sich in die Figur zu verwan¬
deln, die der Dichter gewollt und gedacht hat. An jener Art von Schau¬
spielerinnen fehlt es nicht, unsere jungen Damen sind heute so liebenswürdig
Wie vor fünfzig, vor sechzig, vor hundert Jahren, und wenn man sich damals
an den Gurlis, an den Johannen von Montfaucon u. s. w. erfreute, so haben
wir in unsern Tagen das Lorle, die Grille und andere Rollen, zu deren Darstel¬
lung nur ein angenehmes Naturell gehört. Dazu kommt jetzt noch das große
Hilfsmittel des Schwäbelns, das immer reizend klingt, namentlich aus dem
Munde eines Nichtschwaben. Wenn sich Marie Seebach in diesem Genre
oder in dem des Salonstücks versucht, so wird sie, so anerkennenswert!) auch
hier ihre Leistungen sein mögen, leicht zu übertreffen sein; in dem Charakter¬
stück dagegen und namentlich in demjenigen, das eine tiefere Innigkeit der
Seele erfordert, eine Innigkeit, die von der gemüthlich angenehmen Oberfläche
Wohl zu unterscheiden ist, wird sie nicht leicht ihres Gleichen finden.

Auch die bedeutendsten Künstler werden die Spuren ihrer Zeit an sich
tragen, schon der Dichter, noch weit mehr der Schauspieler, dem der Stoff ja
überliefert werden muß. Vor einigen Jahren erschien in diesen Blättern ein
Porträt von Davison; so verschieden die Persönlichkeiten sind, so erinnert doch
wanches in dem Spiel der einen an die Art und Weise der andern und
vielleicht prägt sich in ihnen beiden der Charakter der gegenwärtigen Kunst¬
periode am schärfsten aus. Beide werden nicht von dem allgemeinen Strom


Grenzboten IV. 1859. ö
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[0077] Wir sind uns dieser Schwierigkeiten wohl bewußt, indem wir den Ver¬ such machen, von einer bedeutenden Künstlernatur einen Umriß zu geben. Diese Schwierigkeit wird noch dadurch vermehrt, daß wir Marie Seebach nur aus einem Gastspiel kennen, freilich aus einem sehr umfangreichen Gastspiel, welches ihre bedeutendsten Rollen enthielt: allein vollständig lernt man den Künstler doch nur in dem ruhigen Zusammenwirken mit der Bühne würdigen, zu der er gehört. Jedes Gastspiel, schon weil es das Ensemble unterbricht, hat etwas Unruhiges für den Darsteller wie für den Zuschauer; es ist doch in jeder Persönlichkeit irgend etwas, woran man sich erst gewöhnen muß, um den Kunstgenuß rein zu empfangen, und man hat alle Ursache vorsichtig zu sein, ehe man . auch aus einem Cyklus von beiläufig zwanzig Vorstellungen allgemeine Schlüsse zieht. Marie Seebach wird durch die öffentliche Stimme unter den jetzt lebenden und wirkenden Schauspielerinnen als die erste bezeichnet, und wir pflichten diesem Urtheil vollkommen bei. Es ist ein hoher Genuß, wenn man daran gewöhnt ist, Schauspielerinnen von mehr oder minder angenehmem Naturell unter den verschiedensten Masken ganz unbefangen sich in ihrem eigenen Wesen ergehen zu sehn, einmal im schroffen Gegensatz dazu eine echte Künstler¬ natur zu bewundern, die den ernsthaften Willen und die Kraft besitzt, aus ihrer eignen Individualität herauszugehn und sich in die Figur zu verwan¬ deln, die der Dichter gewollt und gedacht hat. An jener Art von Schau¬ spielerinnen fehlt es nicht, unsere jungen Damen sind heute so liebenswürdig Wie vor fünfzig, vor sechzig, vor hundert Jahren, und wenn man sich damals an den Gurlis, an den Johannen von Montfaucon u. s. w. erfreute, so haben wir in unsern Tagen das Lorle, die Grille und andere Rollen, zu deren Darstel¬ lung nur ein angenehmes Naturell gehört. Dazu kommt jetzt noch das große Hilfsmittel des Schwäbelns, das immer reizend klingt, namentlich aus dem Munde eines Nichtschwaben. Wenn sich Marie Seebach in diesem Genre oder in dem des Salonstücks versucht, so wird sie, so anerkennenswert!) auch hier ihre Leistungen sein mögen, leicht zu übertreffen sein; in dem Charakter¬ stück dagegen und namentlich in demjenigen, das eine tiefere Innigkeit der Seele erfordert, eine Innigkeit, die von der gemüthlich angenehmen Oberfläche Wohl zu unterscheiden ist, wird sie nicht leicht ihres Gleichen finden. Auch die bedeutendsten Künstler werden die Spuren ihrer Zeit an sich tragen, schon der Dichter, noch weit mehr der Schauspieler, dem der Stoff ja überliefert werden muß. Vor einigen Jahren erschien in diesen Blättern ein Porträt von Davison; so verschieden die Persönlichkeiten sind, so erinnert doch wanches in dem Spiel der einen an die Art und Weise der andern und vielleicht prägt sich in ihnen beiden der Charakter der gegenwärtigen Kunst¬ periode am schärfsten aus. Beide werden nicht von dem allgemeinen Strom Grenzboten IV. 1859. ö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/77>, abgerufen am 22.07.2024.