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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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düvfniß nach Zerstreuung so dringend gemacht Hütte, daß ich zu¬
letzt in die Verwechselung der Erdaxe gewilligt haben würde,
'du loszuwerden. Es wäre doch grausam, wenn man einen Kranken ver¬
antwortlich machen wolle für Handlungen, die er im Anfall der Schmerzen
beging."

Hier stehn wir an dem entscheidenden Punkt -- aber freilich wird der
Knoten mehr zerhauen als gelöst; auf das pathologische Gebiet kann der
Psycholog, der Aesthetiker nicht folgen. -- Mit dem Brief aus Se. Omer
schweigen die Nachrichten; der nächste Brief ist voM 24. Juni 1804 aus Ber¬
lin, wo Kleist wenige Tage vorher angekommen ist und sich ernstlich um
une Anstellung bemüht. Die Poesie scheint er damals -- wenigstens vor¬
läufig -- aufgegeben zu haben. General Köckeritz. dem er sich als geheilt
vorstellt, fragt ihn sehr ernst: "Sind sie wirklich jetzt hergestellt? -- ganz,
versteh" Sie mich, hergestellt? -- Ich meine, ob Sie von allen Ideen und
schwindeln, die vor Kurzem im Schwange waren, völlig hergestellt sind?" --
Major Gualtieri. der ihn schon während seines ersten Potsdamer Aufenthalts
protegirt hatte, schlägt ihm vor. ihn nach Spanien zu begleiten; in einiger
Zeit könne er dann Lcgationssecretär werden. Auch von einer Anstellung im
Fränkischen ist die Rede. Vorläufig unterhält ihn die Familie, die zuweilen
recht ungeduldig geworden zu sein scheint. "Werde nicht irre an mir, mein
bestes Mädchen!" schreibt er im Juli 1804, "laß mir den Trost, daß Einer in
der Welt sei, der fest auf mich vertraut! Wenn ich in deinen Augen nichts
Mehr werth bin. so bin ich wirklich nichts mehr werth!" Und im December
(abermals hatte sich über seine Anstellung noch nichts entschieden): "Ich bin
sehr traurig. Du hast zwar nicht viel Mitleiden mit mir. ich leide aber doch
Wirklich erstaunlich. Komm also mir herüber und tröste mich ein wenig.
Ich weiß doch, daß du mir gut bist, und daß du mein Glück willst, du
weißt nur nicht, was mein Glück wäre!" -- Endlich ist er in Königsberg
""gestellt; Ulrike begleitet ihn dahin und bleibt einige Zeit bei ihm (S. 128).
Den 24. Oct. 180"*) schreibt er: "Ich war vor einiger Zeit willens nach
Berlin zu gehen. Doch mein krankhafter Zustand macht es mir ganz un¬
möglich. Ich leide an Beängstigungen, schwitze und phantasire und muß
unter drei Tagen immer zwei das Bette hüten. Mein Nervensystem ist zer-
sti"r. Ich war zu Ende des Sonnners fünf Wochen in Pillau, um dort
das Seebad zu gebrauchen, doch anch dort war ich bettlägerig und bin kaum
fünf- oder sechsmal ins Wasser gestiegen." Den e. Dec. 1806. als er einen
Vues von ihr erhalten: "Liebe, Verehrung und Treue wallten wieder so
Abhast in mir auf. wie in den gefühltesten Augenblicken meines Lebens.



^ ') Dieses Datum hat der Brief Ur. 34, da er vor dem Einzug Napoleons in
Berlin (27. Oct.) geschrieben sein muß.
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düvfniß nach Zerstreuung so dringend gemacht Hütte, daß ich zu¬
letzt in die Verwechselung der Erdaxe gewilligt haben würde,
'du loszuwerden. Es wäre doch grausam, wenn man einen Kranken ver¬
antwortlich machen wolle für Handlungen, die er im Anfall der Schmerzen
beging."

Hier stehn wir an dem entscheidenden Punkt — aber freilich wird der
Knoten mehr zerhauen als gelöst; auf das pathologische Gebiet kann der
Psycholog, der Aesthetiker nicht folgen. — Mit dem Brief aus Se. Omer
schweigen die Nachrichten; der nächste Brief ist voM 24. Juni 1804 aus Ber¬
lin, wo Kleist wenige Tage vorher angekommen ist und sich ernstlich um
une Anstellung bemüht. Die Poesie scheint er damals — wenigstens vor¬
läufig — aufgegeben zu haben. General Köckeritz. dem er sich als geheilt
vorstellt, fragt ihn sehr ernst: „Sind sie wirklich jetzt hergestellt? — ganz,
versteh» Sie mich, hergestellt? — Ich meine, ob Sie von allen Ideen und
schwindeln, die vor Kurzem im Schwange waren, völlig hergestellt sind?" —
Major Gualtieri. der ihn schon während seines ersten Potsdamer Aufenthalts
protegirt hatte, schlägt ihm vor. ihn nach Spanien zu begleiten; in einiger
Zeit könne er dann Lcgationssecretär werden. Auch von einer Anstellung im
Fränkischen ist die Rede. Vorläufig unterhält ihn die Familie, die zuweilen
recht ungeduldig geworden zu sein scheint. „Werde nicht irre an mir, mein
bestes Mädchen!" schreibt er im Juli 1804, „laß mir den Trost, daß Einer in
der Welt sei, der fest auf mich vertraut! Wenn ich in deinen Augen nichts
Mehr werth bin. so bin ich wirklich nichts mehr werth!" Und im December
(abermals hatte sich über seine Anstellung noch nichts entschieden): „Ich bin
sehr traurig. Du hast zwar nicht viel Mitleiden mit mir. ich leide aber doch
Wirklich erstaunlich. Komm also mir herüber und tröste mich ein wenig.
Ich weiß doch, daß du mir gut bist, und daß du mein Glück willst, du
weißt nur nicht, was mein Glück wäre!" — Endlich ist er in Königsberg
""gestellt; Ulrike begleitet ihn dahin und bleibt einige Zeit bei ihm (S. 128).
Den 24. Oct. 180«*) schreibt er: „Ich war vor einiger Zeit willens nach
Berlin zu gehen. Doch mein krankhafter Zustand macht es mir ganz un¬
möglich. Ich leide an Beängstigungen, schwitze und phantasire und muß
unter drei Tagen immer zwei das Bette hüten. Mein Nervensystem ist zer-
sti"r. Ich war zu Ende des Sonnners fünf Wochen in Pillau, um dort
das Seebad zu gebrauchen, doch anch dort war ich bettlägerig und bin kaum
fünf- oder sechsmal ins Wasser gestiegen." Den e. Dec. 1806. als er einen
Vues von ihr erhalten: „Liebe, Verehrung und Treue wallten wieder so
Abhast in mir auf. wie in den gefühltesten Augenblicken meines Lebens.



^ ') Dieses Datum hat der Brief Ur. 34, da er vor dem Einzug Napoleons in
Berlin (27. Oct.) geschrieben sein muß.
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[0503] düvfniß nach Zerstreuung so dringend gemacht Hütte, daß ich zu¬ letzt in die Verwechselung der Erdaxe gewilligt haben würde, 'du loszuwerden. Es wäre doch grausam, wenn man einen Kranken ver¬ antwortlich machen wolle für Handlungen, die er im Anfall der Schmerzen beging." Hier stehn wir an dem entscheidenden Punkt — aber freilich wird der Knoten mehr zerhauen als gelöst; auf das pathologische Gebiet kann der Psycholog, der Aesthetiker nicht folgen. — Mit dem Brief aus Se. Omer schweigen die Nachrichten; der nächste Brief ist voM 24. Juni 1804 aus Ber¬ lin, wo Kleist wenige Tage vorher angekommen ist und sich ernstlich um une Anstellung bemüht. Die Poesie scheint er damals — wenigstens vor¬ läufig — aufgegeben zu haben. General Köckeritz. dem er sich als geheilt vorstellt, fragt ihn sehr ernst: „Sind sie wirklich jetzt hergestellt? — ganz, versteh» Sie mich, hergestellt? — Ich meine, ob Sie von allen Ideen und schwindeln, die vor Kurzem im Schwange waren, völlig hergestellt sind?" — Major Gualtieri. der ihn schon während seines ersten Potsdamer Aufenthalts protegirt hatte, schlägt ihm vor. ihn nach Spanien zu begleiten; in einiger Zeit könne er dann Lcgationssecretär werden. Auch von einer Anstellung im Fränkischen ist die Rede. Vorläufig unterhält ihn die Familie, die zuweilen recht ungeduldig geworden zu sein scheint. „Werde nicht irre an mir, mein bestes Mädchen!" schreibt er im Juli 1804, „laß mir den Trost, daß Einer in der Welt sei, der fest auf mich vertraut! Wenn ich in deinen Augen nichts Mehr werth bin. so bin ich wirklich nichts mehr werth!" Und im December (abermals hatte sich über seine Anstellung noch nichts entschieden): „Ich bin sehr traurig. Du hast zwar nicht viel Mitleiden mit mir. ich leide aber doch Wirklich erstaunlich. Komm also mir herüber und tröste mich ein wenig. Ich weiß doch, daß du mir gut bist, und daß du mein Glück willst, du weißt nur nicht, was mein Glück wäre!" — Endlich ist er in Königsberg ""gestellt; Ulrike begleitet ihn dahin und bleibt einige Zeit bei ihm (S. 128). Den 24. Oct. 180«*) schreibt er: „Ich war vor einiger Zeit willens nach Berlin zu gehen. Doch mein krankhafter Zustand macht es mir ganz un¬ möglich. Ich leide an Beängstigungen, schwitze und phantasire und muß unter drei Tagen immer zwei das Bette hüten. Mein Nervensystem ist zer- sti"r. Ich war zu Ende des Sonnners fünf Wochen in Pillau, um dort das Seebad zu gebrauchen, doch anch dort war ich bettlägerig und bin kaum fünf- oder sechsmal ins Wasser gestiegen." Den e. Dec. 1806. als er einen Vues von ihr erhalten: „Liebe, Verehrung und Treue wallten wieder so Abhast in mir auf. wie in den gefühltesten Augenblicken meines Lebens. ^ ') Dieses Datum hat der Brief Ur. 34, da er vor dem Einzug Napoleons in Berlin (27. Oct.) geschrieben sein muß. 02*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/503>, abgerufen am 03.07.2024.