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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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ster? Die Berichte der erstem über die Düsseldorfer Gallerte sind zum Theil
brillant, auch im Ardinghetto steht viel Geistvolleres und Haltbareres, als im
Sternbald. den Herzensergießungen n. s. w. Man ist gewohnt, nach dem-
Borbild der W, K. F., die auch eine höchst einseitige Richtung verfolgten
fUebertrcigung der Gesetze der Bildhauerei auf die Malerei), nur die nazare-
nische Richtung jener Bücher ins Auge zu fassen, die allerdings einen höchst
schädlichen Einfluß geübt hat: die Hauptsache aber ist ihre unglaubliche
Leerheit und Schalden. Das wenige, was in ihnen brauchbar erscheint, war
von Heinse schon viel besser gesagt. -- Die "allgemein gültige Ansicht von
der Barbarei des Mittelalters" ist auch nicht so streng zu nehmen; schon hatte
Joh. Müller glänzende Bilder vom M.-A. gegeben, die Kirche desselben (1782)
mit großer Veredtsamkeit vertheidigt; durch Schliessen waren die Nibelungen
herausgegeben; selbst Schiller sing in seiner Borrede zu Vertot -- lange vor Tieck!
-- für das M.-A. zu schwärmen an -- Aber Tieck. Schlegel. Fichte u. f. w. hatten
von ihren Zeitgenossen nur Nicolai im Auge, für sie war alles Nicolai; darum muß
die Literaturgeschichte ihre Rhetorik mit großer Vorsicht brauchen. -- Zudem ging
ihre erste Richtung gar nicht aufs Mittelalter, von dem sie (Dante ausgenom¬
men) herzlich wenig wußten, sondern auf die Renaissance und das 17. I.. auf
Cervantes, Shakespeare, Ariost, Tasso, Calderon u. s. w. - S. 2175 werden
die Recensenten des Abdallah und Lovell getadelt, obgleich ihnen Koberstein
im Grunde Recht gibt. Was war denn in jenen beiden Romanen Gutes?^
Ein Recensent nennt den Lovell den verächtlichsten ekelhaftesten Menschen, und
Koberstein bemerkt in einer Parenthese dazu: "etwa der Absicht des Dichters
zuwider?" Dieser Einwurf ist nicht stichhaltig. Das Thema jener beiden Ro¬
mane, welches im erstem freilich noch viel abstracter hervortritt, ist die Ver¬
führung guter oder wenigstens gut angelegter Naturen durch satanische List
zum Bösen. Ein solches Thema ist bei der psychologischen Neugierde und
Kleinkrümerei jener Tage ganz begreiflich, und es ist- auch gleichviel, ob man
die Berechtigung desselben im allgemeinen zugibt oder nicht, da in diesem
Fall die Ausführung in einer Weise verfehlt ist, daß sie jedes menschliche Ge¬
fühl empören muß. Um so verworfene Schurken zu werden, wie Abdallah
und Lovell zum Schlüsse sind; um es durch eine so armselige Verführung zu
werden, wie Tieck sie schildert, mußten sie schon von vornherein elende sieche
Geschöpfe sein. Und der ästhetische Fehler greift hier tiefer: denn um seine"
Plan durchzuführen, schildert Tieck den Menschen als eine Molluske ohne sit^
liebes Knochengerüst. Diese Art von Schöpfung verdiente damals schon har-'
den Tadel, und muß uns heute um so widerlicher sein, da jene Mollusken
eine unzählige Nachkommenschaft hinterlassen haben. Dieser Umstand verstimmt
uns auch gegen Tiecks bessere Dichtungen: Knochen d. h. eine feste Gestalt,
hat bei ihm keine einzige Figur, sie haben alle das Wesen des Traumes, daß


ster? Die Berichte der erstem über die Düsseldorfer Gallerte sind zum Theil
brillant, auch im Ardinghetto steht viel Geistvolleres und Haltbareres, als im
Sternbald. den Herzensergießungen n. s. w. Man ist gewohnt, nach dem-
Borbild der W, K. F., die auch eine höchst einseitige Richtung verfolgten
fUebertrcigung der Gesetze der Bildhauerei auf die Malerei), nur die nazare-
nische Richtung jener Bücher ins Auge zu fassen, die allerdings einen höchst
schädlichen Einfluß geübt hat: die Hauptsache aber ist ihre unglaubliche
Leerheit und Schalden. Das wenige, was in ihnen brauchbar erscheint, war
von Heinse schon viel besser gesagt. — Die „allgemein gültige Ansicht von
der Barbarei des Mittelalters" ist auch nicht so streng zu nehmen; schon hatte
Joh. Müller glänzende Bilder vom M.-A. gegeben, die Kirche desselben (1782)
mit großer Veredtsamkeit vertheidigt; durch Schliessen waren die Nibelungen
herausgegeben; selbst Schiller sing in seiner Borrede zu Vertot — lange vor Tieck!
— für das M.-A. zu schwärmen an — Aber Tieck. Schlegel. Fichte u. f. w. hatten
von ihren Zeitgenossen nur Nicolai im Auge, für sie war alles Nicolai; darum muß
die Literaturgeschichte ihre Rhetorik mit großer Vorsicht brauchen. — Zudem ging
ihre erste Richtung gar nicht aufs Mittelalter, von dem sie (Dante ausgenom¬
men) herzlich wenig wußten, sondern auf die Renaissance und das 17. I.. auf
Cervantes, Shakespeare, Ariost, Tasso, Calderon u. s. w. - S. 2175 werden
die Recensenten des Abdallah und Lovell getadelt, obgleich ihnen Koberstein
im Grunde Recht gibt. Was war denn in jenen beiden Romanen Gutes?^
Ein Recensent nennt den Lovell den verächtlichsten ekelhaftesten Menschen, und
Koberstein bemerkt in einer Parenthese dazu: „etwa der Absicht des Dichters
zuwider?" Dieser Einwurf ist nicht stichhaltig. Das Thema jener beiden Ro¬
mane, welches im erstem freilich noch viel abstracter hervortritt, ist die Ver¬
führung guter oder wenigstens gut angelegter Naturen durch satanische List
zum Bösen. Ein solches Thema ist bei der psychologischen Neugierde und
Kleinkrümerei jener Tage ganz begreiflich, und es ist- auch gleichviel, ob man
die Berechtigung desselben im allgemeinen zugibt oder nicht, da in diesem
Fall die Ausführung in einer Weise verfehlt ist, daß sie jedes menschliche Ge¬
fühl empören muß. Um so verworfene Schurken zu werden, wie Abdallah
und Lovell zum Schlüsse sind; um es durch eine so armselige Verführung zu
werden, wie Tieck sie schildert, mußten sie schon von vornherein elende sieche
Geschöpfe sein. Und der ästhetische Fehler greift hier tiefer: denn um seine»
Plan durchzuführen, schildert Tieck den Menschen als eine Molluske ohne sit^
liebes Knochengerüst. Diese Art von Schöpfung verdiente damals schon har-'
den Tadel, und muß uns heute um so widerlicher sein, da jene Mollusken
eine unzählige Nachkommenschaft hinterlassen haben. Dieser Umstand verstimmt
uns auch gegen Tiecks bessere Dichtungen: Knochen d. h. eine feste Gestalt,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/394>, abgerufen am 24.08.2024.